Der Radsport erlebt ein überraschendes Revival
Zwischen Nerdtum, Lifestyle und Wettkampflust: In Hannover haben zwei junge Männer den Verein Hannover Crit gegründet, eine wachsende Community.

Farbenfrohes Outfit: Radsport-Fans in Hannover gründen Vereine, veranstalten Events und kaufen auch kostspieliges Equipment. Optisch sind viele mit den Profisportlern absolut auf Augenhöhe.Foto: Tobias Woelki
Hannover. Alexander Brandes (27) und Paul Bormann (27) kennen die Klischees über Rennrad fahrende Männer nur zu gut. In den sozialen Medien, auf Tiktok und Instagram, sind die Memes längst ein eigenes Genre.

Die spöttische Erzählung: Männer um die 30, privilegiert und in der beginnenden Midlifecrisis, suchen sich ein teures Hobby, das sie zu ihrer Identität machen können. Radsport wird zum Lifestyle, über den sie ausschweifend reden. „Dazu kommen die Siebträgermaschine und der eigene Sauerteig“, sagt Bormann und lacht.

Die beiden leidenschaftlichen Hobby-Radsportler fühlen sich von solchen Witzen nicht getroffen. „Der Lifestyle ist uns ja nicht fremd“, gibt Brandes zu. Vor ihm steht ein großer Americano. „Und der Radsport profitiert davon.“ Die Branche wachse, Unternehmen und Sponsoren zeigten mehr Interesse, es gebe mehr Rennen und Events.

Die beiden Hannoveraner fahren Rennrad, seit sie 19 und 20 Jahre alt sind. „Da waren wir noch weit weg von der Midlifecrisis“, sagt Bormann schmunzelnd. Seit ein paar Jahren sind sie als Community Hannover Crit unterwegs. Zu sechst starteten sie mit der Idee, ein Fixed-Gear-Rennteam aufzubauen. Parallel dazu organisierten sie Social Rides – entspannte Gruppenausfahrten für Neulinge. Die Idee: gemeinsam ohne Leistungsdruck fahren, sich unterhalten und danach bei Kaffee und Kuchen einkehren.

Die Nachfrage übertraf alle Erwartungen. „Vor eineinhalb Jahren hatten wir 70 bis 80 Leute bei einem Social Ride“, erzählt Brandes. „Da wurde uns klar: Wir müssen uns um Haftung, Sponsoren und unsere Organisation kümmern.“ Seit April ist Hannover Crit ein eingetragener Verein mit knapp 30 Mitgliedern.

Der Radsport erlebt derzeit ein Revival, das über den Sport hinausgeht. Die Tour de France erreichte Rekordeinschaltquoten. Rennradausfahrten werden zu sozialen Events, und Radsportbekleidung avanciert zum Modeaccessoire. Früher galten die engen, grellen Lycra-Outfits und die schnellen Brillen als unvorteilhaft. Heute sind sie cool. 2022 rappte der Berliner Technorapper Ski Aggu: „Bae will wissen, ob ich dippe, aber fragt nicht, wieso. Bin am raven in nem Fahrradfahrer-Trikot.“ 2024 brachte der Star der Generation Z ein selbst designtes Trikot als Tour-Merchandise heraus.

„Ich kenne Leute, die den Look cool finden und deshalb mit dem Rennradfahren anfangen – nicht wegen des Sports“, sagt Bormann. Er belächelt das nicht. Der ausgebildete Designer hat für Hannover Crit eigene Trikots entworfen. Er zeigt auf sein pinkes Oberteil: „Das kostet 70 Euro. Das Standardtrikot vom gleichen Hersteller kostet das Doppelte.“

Der Markt für Fahrradbekleidung boomt und erreicht weltweit Milliardenumsätze. Neben etablierten Marken wie Shimano, Gore oder Specialized setzen jüngere Labels wie Rapha oder Café du Cycliste modische Akzente.

Brandes sieht die explodierenden Preise für Ausrüstung kritisch. „Es wird gefühlt vorausgesetzt, dass man teure Trikots braucht. Klar, ein gutes Trikot macht Sinn, aber 400 Euro müssen es nicht sein.“ Dass Radsport ein teures Hobby ist, wissen beide. Ein Rennrad kostet mindestens 2000 Euro, das sei die „Untergrenze“. Für Material, Kleidung und Zubehör kommen jährlich weitere 2000 Euro hinzu, rechnet Brandes vor. Dazu kommen Kosten für Rennen und Events.

„Es geht aber auch günstiger“, betont Bormann. „Für 500 Euro bekommt man ein gebrauchtes Rennrad, für 200 Euro Helm, Schuhe und Trikot – und los geht’s.“ Aber wird man als Rennradfahrer nicht automatisch zum Nerd, der mehr ausgibt, als nötig? Beide grinsen. „Wenn du den Leistungsgedanken entdeckst, passiert das schnell“, sagt Bormann. Er vertieft sich gerne in technische Details, spricht über Carbonrahmen, Klickpedale und Reifenbreiten. „Außenstehende steigen natürlich sofort aus, wenn ich über den Luftwiderstand meiner Socken rede“, sagt er lachend.

Ob es am Nerdtum liegt oder am kompetitiven Charakter: Der Radsport bleibt eine Männerdomäne. Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts von 2023 sind 73 Prozent der rund sechs Millionen Rennradfahrer in Deutschland männlich. „Es ist weniger ein Männerhobby als früher“, sagt Bormann. Die wachsende Nachfrage nach Flinta-Rides, die ohne Männer fahren, zeigt das. Doch bei den sogenannten Fast Rides bleiben Männer oft unter sich. „Rennradsport ist sehr Ego-getrieben“, sagt Brandes. Das schrecke viele Frauen ab.

Anders sieht es bei den Social Rides aus. „Da fahren immer mehr Frauen mit“, sagt Brandes. „Es geht um das gemeinsame Fahren, es ist entspannter.“ Für die beiden Hannoveraner liegt der Reiz des Radsports in der Gemeinschaft. Freundschaften entstehen, der Lebensstil am Wochenende verändert sich. „Wenn ich am Samstagmorgen fahre, spare ich mir ein Bier am Vorabend, weil mir das mehr gibt“, sagt Brandes.

Das Rennrad wird zur Kneipe auf Rädern. „Man fährt nur so schnell, dass man sich unterhalten kann“, sagt Brandes. „Am Ende landet man in einem Café und quatscht noch eine Stunde über Gott und die Welt.“ Kaffee und Rennrad – das gehören eben doch zusammen.

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