Auf den Punkt genau platziert Yvonne Knothe (47) ein Glitzersteinchen auf dem Diamond-Painting-Bild, das vor ihr liegt. Das Motiv: Zwei Elefanten in der Savanne während eines Sonnenuntergangs. Die 47-Jährige nimmt mit einem speziellen Stift den nächsten Stein auf, heftet ihn aufs Bild. Mark Johnson (72) schaut ihr neugierig über die Schulter: „Ich könnte das nicht. Dafür muss man über Geduld verfügen. Und davon habe ich nicht viel.“
Der 72-Jährige hat dafür viel Empathie, Nächstenliebe und Wissbegier aufzuweisen: Der Amerikaner kam extra aus seiner Heimatstadt Anchorage im Bundesstaat Alaska nach Hannover und arbeitet für einen Monat ehrenamtlich in der Kleefelder Diakovere-Tagesförderstätte. Die Gründe für sein Engagement sind vielfältig, wie uns der pensionierte Rechtsanwalt gerade in den sogenannten Tag-Werken an der Anna-von-Borries-Straße erzählt hat. Solche Tag-Werke sollen Menschen mit Behinderung Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben erfahrbar machen. Bei Yvonne Knothe wurde nach der Geburt etwa spastische Tetraplegie diagnostiziert.
„Zunächst einmal ist da mein Großvater, der Deutscher war“, erzählt Johnson von dem Schiffskapitän Robert Marquardt, der 1889 oder 1890 in Lüneburg geboren wurde. Fest steht: 1910 hat er Deutschland verlassen und ist nach San Francisco an die US-Westküste gezogen. „Als Kind habe ich ein paarmal die Sommerferien bei ihm verbracht“, erinnert sich Johnson. „Ein kräftiger Mann. Ernst, stolz, sehr deutsch.“ Deutsch geredet hat er mit seinem Enkelkind allerdings nicht. „Er hat immer Englisch gesprochen, mit sehr starkem Akzent.“
Erst vor 30 Jahren packte es Johnson, seine Wurzeln auch sprachlich zu erforschen und er fing an, die Muttersprache seines Opas zu lernen. Dafür besuchte er diverse Sprachschulen in der Bundesrepublik, mal in Frankfurt, Schwäbisch Hall, Berlin. Manchmal hat er die Reisen mit seiner Frau gemacht, sie besuchten in den oberbayerischen Alpen den Schauplatz der G7-Gipfel aus den Jahren 2015 und 2022. „Schloss Elmau hat ein großartiges Spa, alles Spitzenqualität“, so Johnson lachend.
Sein aktueller Deutschland-Trip, es ist der 15., ist eine Sprachreise der besonderen Art: Über das Freiwilligenzentrum Hannover erkundigte sich Mark Johnson nach einer Möglichkeit, ehrenamtlich tätig zu werden und fernab von Vokabelheften und Schulbänken praxisnah seine Deutschkenntnisse weiter zu verbessern. „Nach so vielen Unterrichtsstunden wollte ich einen anderen Weg wählen.“
Das Freiwilligenzentrum vermittelte einen Kontakt zum evangelischen Sozialunternehmen Diakovere, genauer gesagt zu Agnes Wegwerth-Maiwald. Sie leitet die Tag-Werke. „Wir haben uns das erste Mal über Teams gesehen“, erzählt sie. Dafür hat sie sich am späten Nachmittag, Johnson frühmorgens vor den Computer gesetzt – zehn Stunden Zeitverschiebung liegen zwischen Anchorage und Hannover. Das Kennenlernen lief gut, die Verständigung ebenso. „Für uns war wichtig zu wissen, ob Herr Johnson sich vorstellen kann, Menschen im Rollstuhl zu betreuen.“ Konnte er, auch wenn er es vorher noch nie getan hat.
Es folgten Fragebögen, Formulare, bürokratische Faktenchecks – und schließlich die Flugreise nach Hannover. Warum eigentlich Hannover? „Ich kenne eine in Deutschland geborene Professorin in Alaska, die kurz vor dem Mauerbau aus Berlin ausgewandert ist. Und die meinte, in Hannover wird das beste Deutsch gesprochen.“
Anfang Mai landete Johnson in Hannover, bezog sein Apartment im Heideviertel in der Nähe des Annateichs – alles übrigens auf eigene Kosten. Drei Tage später trat er seinen Dienst in Kleefeld an. 23 Beschäftigte, so nennt die Einrichtungen die Menschen, die das Angebot nutzen und unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen, sind hier montags bis freitags anwesend. Es gibt drei Gruppen: Farbwelten, das Lädchen, eine Ideenwerkstatt. Diese Arbeitswelten bieten Menschen mit hohem Assistenzbedarf, meist sind es Menschen mit körperlicher Behinderung, die Möglichkeit der Integration und Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Insgesamt sind 191 Plätze an den sechs Standorten vorhanden, aber längst nicht alle belegt: „48 Plätzen sind frei“, so Agnes Wegwerth-Maiwald von Diakovere.
Die Frage, warum ausgerechnet jemand aus den USA herkommt, um ehrenamtlich zu unterstützen, kann Mark Johnson nur schwer nachvollziehen: „Ich bin nicht wichtig. Anderen zu dienen, das ist wichtig. Es ist mir eine Ehre.“ Der 72-Jährige hilft beim Verteilen des Mittagsessens, macht Spaziergänge, erledigt Einkäufe, Berührungsängste gibt keine – beidseitig nicht. In seiner Freizeit erkundet er die Stadt, war als politisch interessierter Mensch sogar schon im Landtag.
Auch weitere Ausflüge hat er unternommen, in die Altmark nach Stendal sowie in den Harz. „Auf den Brocken habe ich es nicht geschafft, ihn aber gesehen.“ Vielleicht beim nächsten Mal: „Er kann gerne wiederkommen“, sagt nämlich auch die Beschäftigte Yvonne Knothe.