Befragungen des Robert Koch-Instituts haben ergeben, dass rund 18 Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen im Alter ab 65 Jahren Alkohol in riskanten Mengen konsumieren. Vorsichtige Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) gehen davon aus, dass etwa 400 000 ältere Menschen missbräuchlich Alkohol konsumieren oder abhängig sind.
„Die Gründe dafür sind vielfältig“, weiß Wolter. Nur Einsamkeit und Depression als Ursachen zu nennen, sei zu klischeehaft. Wolter sieht eher einen Zusammenhang in der gesellschaftlichen Entwicklung. „Die Zeit der Wirtschaftswunder hat einen neuen Lebensstil geprägt. Da gehörte es zum guten Ton, auch mal was zu trinken.“Bier, Schnaps und Wein seien schon damals leicht verfügbar und bezahlbar gewesen. „So hat sich der Alkohol über die Jahre im Alltag etabliert und in den Gewohnheiten verankert“, erklärt der Facharzt. „Doch je älter man wird, desto schwieriger wird es, Gewohnheiten zu ändern.“ Zudem würden „äußere Abstinenzmotivationen wegfallen, also Gründe, um nüchtern zu bleiben.“ Wolter nennt hier vor allem das geregelte Arbeitsleben sowie die Autofahrt zum Betrieb.
Doch: „Der Alkohol wird mit zunehmendem Alter vom Körper immer weniger vertragen. Vor allem, weil er bei älteren Menschen anders wirkt als bei jungen. Ausschlaggebend dafür sind die physiologischen Veränderungen“, sagt der Experte.
Medizinisch erklärt man das so: Der Wasseranteil nimmt im Vergleich zum Fettanteil im Alter ab, auch die Muskelmasse schrumpft. Die gleiche Menge Alkohol verteilt sich demzufolge auf weniger Körperflüssigkeit. Da die Blutalkoholkonzentration auch im Gehirn steigt, wirkt der Alkohol stärker.
„Mengen, die man als junger Mensch problemlos vertragen hat, können jetzt dazu führen, dass man schnell die Kontrolle über seinen Körper, sein Denken und Handeln verliert. Das erhöht die Sturzgefahr und dadurch das Verletzungsrisiko. Auch häufen sich Magen-Darm-Probleme, es kommt zu Flüssigkeitsverlust, der wiederum Einfluss auf den Blutdruck hat und zu Schwindel führen kann.“ Nicht zuletzt sei Alkohol ein wesentlicher Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen. Zudem könne der Körper den Alkohol bei älteren Menschen nicht mehr so schnell abbauen.
Auch die Arzneimittel spielen eine Rolle: Durch alterstypische Erkrankungen müssten häufig mehr Medikamente genommen werden. Wolter: „Das erhöht das Risiko von Wechselwirkungen, was sich nicht zuletzt auf die geistige Leistungsfähigkeit auswirkt.“ Zusammenfassend sagt der Mediziner: „Wenn man mit dem Älterwerden seine Trinkmenge nicht reduziert, kann das zu ernsthaften Gesundheitsproblemen führen.“
Doch das Problem bleibt oft unbemerkt. „Die Symptome des Alkoholmissbrauchs im Alter sind recht unspezifisch. Häufig werden sie als Zeichen körperlicher Erkrankungen oder als Folge des Alterns an sich eingeordnet“, sagt Wolter und weist darauf hin, dass „Alkoholprobleme deshalb bei älteren Menschen deutlich häufiger übersehen werden als bei jüngeren.“ Auffälligkeiten im Verhalten würden vielfach mit einer Demenz, motorischen Problemen oder einer psychischen Erkrankung verwechselt.
Familienangehörige und das nahe Umfeld sollten daher wachsam sein. Sozialer Rückzug, Verlust von Antrieb und Interesse, Depressivität, Schlafstörungen, das Nachlassen der geistigen Leistungskraft, die Vernachlässigung der (Körper-) Hygiene deuten möglicherweise auf Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit hin. Aber auch Gangunsicherheit, häufige Stürze, Verletzungen und Blutergüsse können Hinweise sein. Genauso wie Magen-Darm-Probleme, Inkontinenz, Mangelernährung, Bluthochdruck und instabile Werte bei Diabetes.
Auch in den Pflegeheimen ist der Alkoholkonsum ein Thema: „Oft haben die älteren Menschen gar nicht das Bewusstsein, ob sie schon abhängig sind oder nicht“, sagt Wolfgang Grote, Leiter des Suchthilfezentrums Schleswig. „Und die Pflegekräfte ignorieren das Problem – zumeist aufgrund einer Mischung von fehlender Fachkompetenz, Sensibilität und mangelnden zeitlichen Ressourcen.“ Um Betroffene angemessen zu begleiten, müsse es eine professionelle Herangehensweise geben, so Grote. „Das aber scheitert häufig an der Personalsituation.“
Eine sensible Aufgabe: „Das Thema Alkoholkonsum ist häufig sehr schambesetzt“, weiß Suchtexperte Wolter. „Zu kritisches oder vorwurfsvolles Auftreten drängt die Betroffenen schnell in eine Verteidigungsposition und verprellt.“
Mit Empathie und Neugier hingegen könne man vermitteln, dass man sich für die andere Person interessiert. Dabei gehe es darum, die Motivation und die Ressourcen zu aktivieren, das Verhalten zu ändern.
Der einfache CAGE-Fragebogen gibt erste Hinweise, ob jemand gefährdet oder betroffen ist. Folgende vier Fragen sind dafür mit ja oder nein zu beantworten:
■ Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, dass Sie Ihren Alkoholkonsum verringern sollten?■ Haben Sie sich schon einmal darüber geärgert, dass Sie von anderen wegen Ihres Alkoholkonsums kritisiert wurden?
■ Haben Sie sich jemals wegen Ihres Trinkens schuldig gefühlt?
■ Haben Sie jemals morgens als erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren oder einen Kater loszuwerden?
Ein Verdacht auf ein Alkoholproblem besteht für Erwachsene bis 65 Jahre ab zwei positiven Antworten. Für Erwachsene ab 65 Jahre ab einer positiven Antwort.