„Die Faszination, die vom Mittelalter ausgeht, ist ungebrochen“, sagt Museumsdirektorin Anne Gemeinhardt. Ihr Haus verwahrt eine der wichtigsten deutschen Sammlungen aus jener Zeit: Weihrauchfässer und Gießgefäße, kostbare Statuetten aus Elfenbein, dazu Kästchen, Kelche, Kruzifixe und fragile Textilien aus den Heideklöstern. Das Gros der Stücke stammt aus der Zeit zwischen 800 und 1550. „Allerdings sind die meisten seit Jahrzehnten nicht systematisch untersucht worden“, sagt Brandt. Die Mittelalterkataloge, die ihre Vorgänger hier erstellt haben, stammen noch aus den Jahren 1966 und 1904.
„Einige Stücke haben sich inzwischen als Fälschungen aus dem 19. Jahrhundert entpuppt“, sagt Brandt, „damals gab es eine große Mittelalterbegeisterung.“ In einem großangelegten Projekt arbeitet sie jetzt daran, die Preziosen neu zu erforschen – und womöglich weitere Fälschungen zu entlarven.
Finanziert wird das Vorhaben von der VGH-Stiftung und der Klosterkammer, doch den Löwenanteil von mehr als 240.000 Euro übernimmt die Ernst-von-Siemens-Kunststiftung. „Die Erarbeitung von Bestandskatalogen ist die Königsdisziplin der Museumsarbeit“, sagt deren Generalsekretär Martin Hoernes.
Bei dem auf drei Jahre angelegten Projekt werden die einzelnen Stücke genau dokumentiert. Brandt prüft außerdem ihren Restaurierungsbedarf und macht sie in einer Datenbank auch online zugänglich. „Rund um die Objekte lassen sich viele spannende Geschichten erzählen“, sagt die Mittelalterexpertin. Sie greift zu einem prächtig verzierten Kreuz aus dem 13. Jahrhundert. Es ist mit Emaillestücken aus dem französischen Limoges verziert: „Die einzelnen Elemente wurden dort damals in Massenproduktion hergestellt und als Bausätze verkauft“, sagt sie. Eines der Highlights ist das sogenannte Nazarius-Relief aus Elfenbein, das aus dem hessischen Kloster Lorsch kommt. „Vermutlich war es einmal Teil eines Bucheinbandes“, sagt Brandt. Fast putzig mutet ein Aquamanile an: Das bronzene Gießgefäß aus dem 12. Jahrhundert hat die Gestalt eines Löwen – der gerade ein winziges Mönchlein verspeist. Die meisten Stücke ziehen in den kommenden Monaten ins neue Sammlungszentrum der Stadt an der Vahrenwalder Straße um. Die Glanzstücke sollen nach der geplanten Sanierung voraussichtlich von 2029 an wieder im Museum August Kestner zu sehen sein. Ein Teil der Mittelalterschätze war früher im Besitz der Welfen. Viele stammen aber aus der Sammlung des Druckereibesitzers Friedrich Culemann (1811-1886). „Er hatte ein sehr glückliches Händchen“, sagt Brandt, „ihm verdanken wir einige unserer Prunkstücke.“
Zu den Culemann-Hinterlassenschaften zählen auch ausgesprochen kuriose Stücke: Etwa eine handgroße Scherbe, die einst Teil des Fußbodens im Hildesheimer Dom gewesen sein soll. Oder eine steinerne Fiale, e in Bauschmuck, der neben der Jahreszahl 1870 einen handschriftlichen Vermerk trägt: „Vom Münster zu Straßburg herabgeschossen“. Man darf gespannt sein, ob die Forschung auch hier noch neue Erkenntnisse ans Licht bringt.