Ein liebevolles Streicheln über den Rücken, ein Kuss oder eine warme Umarmung nach einem langen Arbeitstag: „Fast alle Menschen genießen Berührungen – und sind sogar abhängig von ihnen“, sagt Martin Grunwald, Tastsinnforscher und Psychologe an der Uni Leipzig.
Der Tastsinn ist immer aktiv und der erste, der sich im Leben entwickelt. Ein Embryo in der achten Schwangerschaftswoche ist nicht größer als ein Gummibärchen und kann trotzdem schon die Handbewegungen der Mutter auf dem Bauch spüren. In der zehnten Woche wird der Embryo sein Gesicht sogar selbst ertasten, Kälte, Wärme, Druck und Schmerz fühlen können.
Berührungsreize durch Bezugspersonen seien laut Grunwald im Mutterleib, aber auch nach der Geburt essenziell: „Wie bei allen Säugetieren sind sie die einzige Garantie für eine gesunde und stabile Kindesentwicklung. Von Anfang an stützen und stabilisieren Körperinteraktionen unsere Beziehungen zu anderen Menschen – und das ein Leben lang.”
Wie wichtig Berührungen für uns Menschen sind, zeigt sich häufig dann, wenn sie ausbleiben.
Das erlebte Martin Malten aus Hannover, Brille, einnehmendes Lachen, vor kurzer Zeit am eigenen Leib. „Ich hatte ein starkes Gefühl, dass mir etwas Wichtiges im Alltag fehlt“, berichtet er im Videocall. „Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem kuscheln zu wollen – ganz ohne Hintergedanken. Diese Art von Nähe kannte ich eigentlich nur als Vorspiel oder Bestandteil von Sex.“
Im Netz stößt er auf die Seite von Anja Dabrowski, die seit sieben Jahren als professionelle Kuschlerin arbeitet. Zu der 49-Jährigen kommen Menschen, die kaum oder gar nicht berührt werden.
Was bringt Dabrowski dazu, wildfremden Personen eine Kuschelsession anzubieten? „Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig und wohltuend regelmäßiges Kuscheln ist. Wenn ich genügend absichtslose Berührung habe, geht es mir viel besser und ich greife weniger auf Ersatzbefriedigungen wie z.B. Naschen zurück“, steht auf ihrer Webseite zu ihrer Motivation.
Bevor es zur Kuschelsession kommt, wird der Kontakt erst mal langsam angebahnt: Vor einem persönlichen Treffen, das entweder bei Dabrowski oder bei der Person zu Hause stattfindet, telefoniert sie erst einmal mit potenziellen Klienten. „Ich möchte ein Gefühl für die andere Person bekommen und schauen, ob das passen könnte“, sagt die Kuschlerin.
Vorab werden zudem die Rahmenbedingungen abgesteckt, ganz wichtig dabei: Es wird nur gekuschelt, intime Berührungen oder sexuelle Handlungen sind tabu. Die Kleidung wird auch während der Session getragen. „Klar kann es trotzdem zu sexueller Erregung kommen, doch darauf wird nicht eingegangen und sie darf auch wieder gehen“, sagt Dabrowski.
Kommt es zu einem Treffen, fange alles erstmal ganz behutsam an. „Wir setzen uns zusammen aufs Sofa und unterhalten uns. Dann berühren sich vielleicht erst einmal langsam die Hände.“
Ihre Klienten und Klientinnen können bestimmen, wo und wie sie berührt werden möchten. Dabrowski macht ihnen auch konkrete Vorschläge, wie sich etwa gegenseitig zu löffeln oder im Liegen gehalten zu werden. „Viele können dann loslassen und entspannen, bei manchen lösen die Berührungen auch Emotionen aus und es fließen Tränen. Das ist vollkommen in Ordnung“, so Dabrowski. Martin Malten hat sich sofort pudelwohl mit Dabrowski gefühlt, „sie hat ein super Gespür für Menschen“. Schon dreimal habe er Kuschelsessions bei ihr gebucht. „Ich habe dadurch gelernt, besser über meine Bedürfnisse zu sprechen und habe auch mehr Mut, Freunde zu fragen, ob sie Lust auf eine Runde Kuscheln haben.“
Nach jeder einzelnen Stunde habe er sich gelöst und friedlich gefühlt. Kein Wunder: Durch angenehme Berührungen wird Oxytocin ausgeschüttet; das lässt uns ruhiger atmen und unseren Herzschlag und Blutdruck sinken – wir entspannen uns. Mehr noch: Laut der Krankenkasse AOK wird unser Immunsystem gestärkt, wir empfinden weniger Schmerz, Depressionen und Ängste werden gemindert. Eine Metaanalyse, die im Magazin „Nature“ veröffentlicht wurde, hat zudem herausgefunden, dass es nicht entscheidend ist, wie lange man berührt wird. Schon eine kurze Umarmung kann heilsam sein. Und eine weitere Erkenntnis der Untersuchung: Berührungen am Kopf sind am besten für die Gesundheit. Laut der Analyse zeigt Körperkontakt durch Objekte wie einen sozialen Roboter, Umarmungskissen und spezielle Gewichtsdecken ebenfalls einen messbaren Effekt auf die körperliche Gesundheit. Allerdings gebe es nur geringe Effekte auf die mentale Verfassung, da helfe eine menschliche Berührung immer noch am besten.
„Freundlich berührt zu werden, ist ein sicheres Zeichen dafür, dass wir nicht alleine sind”, betont Monika Eckstein, Psychologin und Neurowissenschaftlerin gegenüber der Techniker Krankenkasse. „Zugehörigkeit ist eines der stärksten Bedürfnisse der Menschen. Wird es vernachlässigt, fühlen wir uns belastet, einsam und gestresst.“
Laut Grunwald könne es, wenn die Umarmung der besten Freundin oder das Kuscheln mit dem Partner über einen längeren Zeitraum wegfielen, bei einigen Personen sogar zu psychischen Erkrankungen wie einer Depression kommen. „Im schlimmsten Fall geraten die Menschen in einen lebensbedrohlichen Zustand, bis hin zur Suizidalität.“