„Gleisbert“ ist der Name eines kleinen Kirschbaumes. Der Förster Peter Wohlleben entdeckte ihn bei der Durchreise. Und zwar nicht auf einem ausgiebigen Waldspaziergang, sondern am Hamburger Hauptbahnhof – im Gleis 14, wo er sich über drei Jahre zwischen Schottersteinen und Betonschwellen emporgekämpft hatte.
Im Oktober 2023 erhält Wohllebens Waldakademie – mittlerweile geleitet von Johanna und Tobias Wohlleben – eine Einladung der Deutschen Bahn, die Vogelkirsche auszugraben und umzusiedeln. Für 15 Minuten wird der Verkehr lahmgelegt. „Nachdem wir die oberste Steinschicht abgetragen hatten, schaufelten wir vorsichtig den kleinen Kirschbaum und seine Wurzeln frei“, erinnert sich Johanna Wohlleben. Das erweist sich als gar nicht so leicht, da der Baum schon recht tief gewurzelt hatte. „Nach knapp fünf Minuten konnten wir den kleinen Kämpfer erfolgreich aus seinem ungemütlichen Zuhause befreien und in den mitgebrachten Pflanztopf umsetzen.“ In diesem Topf ging es – per Bahn – in Richtung Eifel. In der Gemeinde Wershofen liegt die Waldakademie, in deren Garten „Gleisbert“ sein neues Zuhause findet.
Wie kann ein fragiler Baumtrieb zwischen Stein und Beton überhaupt gedeihen? „Die Biodiversität an Gleisanlagen ist in der Regel sehr hoch“, sagt Corinna Hölzel, Referentin beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Der Grund liege darin, dass es sich vor allem außerhalb von Ortschaften meist um unversiegelte und nicht landwirtschaftlich genutzte Flächen handelt. „Pflanzen, die nahe am Gleisbett wachsen, sind oft trockenverträgliche Stauden, die an das Klima der jeweiligen Region angepasst sind“, so Hölzel. Dazu zählen unter anderem Johanniskraut, Nachtkerze, Wegwarte, Natternkopf, gewöhnlicher Beifuß, Löwenzahn, echtes Leinkraut, klebriges Greiskraut und verschiedene Süßgräser.
An weniger frequentierten oder stillgelegten Gleisen finde man sogar seltene Arten, die wärmeliebend und an nährstoffarme Standorte angepasst sind. Auch Neophyten – also invasive Arten – wie die kanadische Goldrute würden sich entlang des Gleisbetts ausbreiten.
Ein vielfältiges Pflanzenangebot bringt auch eine vielfältige Tierwelt mit sich. „In den offen gehaltenen Streifen und auch im Gleisbett jagen Greifvögel Mäuse, Eidechsen, Insekten oder kleinere Vögel, die im oder entlang des Gleisbetts ihren Lebensraum finden.“
Um Tiere, vor allem bedrohte Arten, entlang des Streckennetzes zu schützen, setzt die Bahn ihrerseits auf Tiere. Seit wenigen Jahren kommen bei Gleisarbeiten Spürhunde zum Einsatz, die dafür geschult wurden, den Duft von Eidechsen, Schlingnattern, Fledermäusen oder Unken zu erkennen und zu verfolgen. Wird ein Hund fündig, werden die Daten digital erfasst und kartiert.Komplexer ist die Überwachung der Pflanzen. Planmäßig werde der Bewuchs so zurückgeschnitten, dass sechs Meter links und rechts der Gleise kein Gewächs zu finden ist. Auch dahinter habe die Bahn – so schreibt sie auf ihrer Internetseite – morsche und sturmanfällige Bäume im Blick. Was beschnitten wird, lande danach meistens als Biomasse in der Natur oder werde auf dem Holzmarkt verkauft. Stämme und Äste würde man in der Nähe liegen lassen, damit sie von Tieren als Rückzugsorte verwendet werden.
Für den Bereich innerhalb der Schienen verwendet die Bahn Schotterbürsten und ein Verfahren namens Electro Weeding. Hierbei erhitzt Strom das Wasser im Inneren einer Pflanze, wodurch diese samt Wurzel zu welken beginnt. Das chemische Pestizid Glyphosat komme bei der Bahn seit 2023 nicht mehr zum Einsatz.
Die Deutsche Bahn produziert zwar regelmäßig Negativschlagzeilen, doch sie kann auch Erfolge vorweisen. Ein solcher ist ein neu entwickeltes KI-Tool zur Überwachung von Pflanzenwachstum an den Schienen. „BiGEye“ heißt es, und „BiG“ steht für „Bewuchs im Gleis“. Ein Video aus dem Führerstand zeichnet den Streckenverlauf auf. Dieser Clip wird mittels Künstlicher Intelligenz analysiert, der Bewuchsgrad in Prozent ermittelt und die Art der Pflanzen identifiziert.
Bei all diesem Aufwand wundert man sich beinahe, wie „Gleisbert“ jahrelang im Gleis 14 „ungeschoren“ davonkam, weder durch Schotterbürste beschädigt noch durch Electro Weeding verwelkt. In der Eifel ist die Vogelkirsche geradezu in die Höhe geschossen. „In den letzten fünf Monaten ist ‚Gleisbert‘ um 70 Zentimeter gewachsen, das ist einfach Wahnsinn“, sagt Johanna Wohlleben. Für sie ist die Vogelkirsche vom Gleis 14 ein „Symbol der Hoffnung“. „Gleisbert“ zeige, dass die Natur immer wieder zurückkomme, egal welche Maßnahmen wir Menschen auch ergreifen würden, um es ihr zu erschweren. Der Fall verdeutlicht aber auch, wie prächtig die Natur gedeiht, wenn man ihr die Chance gibt, wirklich frei von Hemmnissen zu wachsen.
Im Vergleich zu Straßen und Autobahnen sind Bahnschienen um ein Vielfaches ökologischer: Sie sind nicht versiegelt, können von Tieren überquert werden, ohne direkt überfahren zu werden, und Pflanzen, die andernorts der Konkurrenz um Nährstoffe erliegen, finden hier einen Ort zum Wachsen. „Doch auch eine Bahnstrecke ist immer ein Eingriff in die Natur“, betont Corinna Hölzel vom BUND.
Im Vergleich zu Straßen und Autobahnen sind Bahnschienen um ein Vielfaches ökologischer: Sie sind nicht versiegelt, können von Tieren überquert werden, ohne direkt überfahren zu werden, und Pflanzen, die andernorts der Konkurrenz um Nährstoffe erliegen, finden hier einen Ort zum Wachsen. „Doch auch eine Bahnstrecke ist immer ein Eingriff in die Natur“, betont Corinna Hölzel vom BUND.