Stefan Kopper zieht mit seinen Gästen vom Bahnhofsvorplatz Richtung Kröpcke. Am Ernst-August-Platz hatte er den vier eigentlich „die kleinste Disco der Welt“ zeigen wollen, aber aus dem DJ Gullyman, also dem Gullydeckel, klingt heute weder Salsa- noch Popmusik. „Schade“, findet Kopper und beschreibt seinen Gästen, was sie nicht hören und auch nicht sehen können. Denn die vier Gäste sind blind.
Bürosachbearbeiter Kopper, der selbst nur noch über eine Sehkraft von 16 Prozent verfügt, bietet inklusive Führungen an. Wie kam es dazu? Er hätte schon oft Stadtführungen gemacht, dann habe es seitens der Guides oft geheißen: „Schauen Sie mal hier, gucken Sie mal da.“ Müsse er mehr sagen?
Bei Kopper läuft es anders, er will die übrigen Sinne ansprechen. Wie Musik, aber wenn DJ Gullyman schweigt, kann man eben nichts machen. Und so geht es weiter. Der Weg zum Kröpcke ist nicht ganz einfach. „Die Leute schauen auf ihre Handys und dann kann es auch schon mal passieren, dass die dann über meinen Stock stolpern“, sagt Mirko Seefeldt (24), der mit seiner Kollegin und Freundin Melina Kehrhahn (22) dabei ist.
Die beiden haben sich im Landeszentrum für Blinde in Kleefeld kennen- und auch lieben gelernt. Beide sind in der Ausbildung zum Kaufmann beziehungsweise zur Kauffrau für Büromanagement, er im zweiten, sie im ersten Lehrjahr. Nun wollen sie die Stadt gemeinsam erobern. Jurastudentin und Integrationsfachberaterin Sophie Diedrichs (28) ist wie Melina Kehrhahn und Sören Bromberg (29), der im öffentlichen Dienst arbeitet, von Geburt an blind. Mirko Seefeldt verlor seine restlichen 10 Prozent Sehkraft mit 14 Jahren.
Am Kröpcke können sie die berühmte Uhr ertasten, denn Stefan Kopper hat ein Modell dafür mitgebracht. Genau wie einen Katzensprung weiter die Oper, die er als Modell herumgehen lässt und zu der er ein paar historische Anekdoten erzählt. Hier kann die Gruppe wieder besser zuhören, es ist etwas ruhiger. Und die fünf sind auch besser zu erkennen.
Denn, das fällt auf: Wer einen Menschen mit Blindenstock sieht, nimmt Rücksicht. Aber man muss eben auch die Augen aufmachen, wenn man Augenlicht hat. „Manchmal muss ich vor einem drohenden Zusammenstoß schreien, weil ich merke, dass die Leute Kopfhörer aufhaben und ganz woanders sind“, sagt Seefeldt.
Der Weg von der Oper entlang der turbulenten Georgstraße zum Georgswall ist also durchaus anstrengend für die Blinden, die sich gegenseitig stützen und auch den Arm der Reporterin annehmen. Vor der nächsten „Sehens“-Würdigkeit wird es wieder stiller, am Georgswall in einem Fußgängerdurchgang neben der Filiale der Bundesbank steht ein imposanter Rest der alten Stadtmauer, die sich gut ertasten lässt.
Am Köbelinger Markt vorbei, wo Mirko Seefeldt und Melina Kehrhahn die Autos zum Teil nach deren Geräuschen erkennen, geht es zur Marktkirche. Und zum Steinkreuz auf dem Boden des Hanns-Lilje-Platzes, dem Standort des Vierkirchenblicks. Sehende können von hier aus die Türme der Marktkirche, Aegidienkirche, Kreuzkirche und Neustädter Kirche erblicken, erzählt Kopper den Nichtsehenden. Die vier lauschen begeistert den Berichten ihres Stadtführers.
„Ich sehe Hannover jetzt mit ganz anderen Augen“, meint Mirko Seefeldt. Sehen? „Im Grunde genommen ist das Auge das Gehirn, das Gesprochene wird im Gehirn anders verarbeitet“, erklärt er. „Je nachdem, wie viel Vorstellungsvermögen man hat.“ Melina Kehrhahn fand „alles total interessant, auch die Geschichte, auch das Gefühl an der Stadtmauer“. So werde ihr die neue Heimat nähergebracht, sagt die 22-Jährige, die bis vor einem Jahr noch in Hamburg lebte. „Ich bin nicht mehr ganz so stadtfremd“, sagt sie lächelnd. Sophia Diedrichs kennt als Freundin von Stefan Kopper schon einiges, „aber hier am Holzmarkt war ich noch nicht. Das ist echt super.“ Und auch Sören Bromberg hat es „sehr gut gefallen, ich wusste einiges nicht“, meint er.Der nächste Gang steht an, „wenn eine Gruppe auf mich zukommt, die geführt werden möchte. Ich mache das ja nur nebenbei“, sagt Kopper, der 10 Euro pro Person für seine Führung nimmt. Anmeldungen sind möglich per Mail an kopper.stefan@web.de. Seine Gänge gestalte Kopper inklusiv, „egal, ob die Leute seh- oder hörbeeinträchtigt sind oder im Rollstuhl sitzen, ich versuche, die Führung auf deren Bedürfnisse anzupassen“. Wenn sich jetzt noch weitere Modelle für Hannovers Sehenswürdigkeiten finden würden, damit seine Gäste sie berühren, erfühlen, ertasten können, dann würde er sich richtig freuen.