Es gibt Menschen, die nicht nur einige Wochen im Jahr Urlaub machen, sondern ständig unterwegs sind. Das Fortsein ist für sie Teil der Lebensführung: Da ist Weltrekordhalter Luca Pferdmenges, der mit nur 23 Jahren alle Länder der Erde besucht hat. Andere erkunden Länder wie Kenia oder den Irak mit dem Motorrad oder leben als Familie mit zwei Kindern jeden Monat in einem anderen Land.
Fernweh ist ein deutsches Wort, um das uns viele Sprachen beneiden. Es klingt poetisch – und kann doch zu einem Dauerzustand werden. Wer ständig vom Immer-woanders-Sein träumt, könnte sich irgendwann fragen: Ist das noch normal – oder schon eine Art Sucht?
Die meisten Menschen kennen das: Nach dem Urlaub ist vor dem Urlaub. Kaum zurück, planen sie die nächste Reise, scrollen durch Flugbörsen oder speichern Reels von Stränden. Doch bei manchen wird aus der Vorfreude ein ständiger Drang: immer weg, immer weiter.
Diese Rastlosigkeit hat sogar einen Namen, wie der belgische Kulturanthropologe Noel B. Salazar erklärt. Sprach man früher von „Dromomanie“ oder „travelling fugue“, einem unkontrollierbaren Drang, zu reisen, ist heute eher von Reiseverlangen (englisch „travel craving“) die Rede. Ob es sich dabei um eine echte Sucht handelt, ist umstritten, aber das Gefühl ist echt: Menschen berichten von innerer Unruhe oder Angst, wenn sie längere Zeit nicht unterwegs sein können.
Eine Studie beschreibt dieses Gefühl als ein „kognitiv-emotionales Ereignis“: Gedanken, Bilder und Emotionen kreisen so stark ums Reisen, dass das Ausbleiben der Erfahrung frustrierend oder sogar quälend wirkt – fast wie kleine Entzugserscheinungen. In Zeiten von Pandemie-Lockdowns und Reisebeschränkungen war dieses „Reiseverlangen“ besonders stark zu beobachten, heute wird es vor allem durch die ständige Präsenz von Stränden und Sonnenuntergängen in unseren Social-Media-Feeds befeuert.
Das sinnstiftende Element des Reisefiebers wird auch von jenen wahrgenommen, die im Tourismussegment ihr Geld verdienen – und durch neue Technologien werden wir von ihren Werbemaßnahmen immer persönlicher angesprochen: „Menschen haben sehr unterschiedliche Wünsche und Sehnsüchte. Der Tourismussektor greift auf sämtliche Mythen zurück, weil er möglichst viele Bedürfnisse ansprechen will“, so Salazar.
Reisen ist grundsätzlich etwas Schönes. Doch Fachleute betonen, dass Fernweh dann problematisch wird, wenn es zu einer Flucht vor sich selbst oder dem Alltag wird. Wer nie ankommt, nie zur Ruhe findet und sich nur dann lebendig fühlt, wenn die nächste Buchung bestätigt ist, sollte hellhörig werden.
Michael Brein, Sozialpsychologe aus den USA, kennt die Mechanismen dahinter. „Manche nutzen Reisen, um dem Leben zu Hause zu entkommen oder zu vermeiden, dauerhaft mit der Realität umzugehen. In einem atemlosen Tempo zu reisen und sich dem Rausch hinzugeben, ein Land nach dem anderen zu besuchen, könnte eine Form von Eskapismus sein, der als das Erkunden exotischer Urlaube getarnt ist“, so Brein. Reisen könne dahingehend süchtig machen, dass Dopamin unsere Belohnungsbahnen überflutet und wir nach immer mehr Neuartigkeit verlangen.
Gleichzeitig habe das Reisen vor allem Vorteile: „Der schnellste Weg, um sich gut zu fühlen, besteht darin, zu reisen, andere Menschen zu treffen und Erfahrungen zu teilen“, sagt Brein. Auch wenn man motiviert sei, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen, könne das Reisen sehr hilfreich sein. „Es schafft Distanz und Raum zum Nachdenken. Aber wer es nur nutzt, um dauerhaft Probleme zu vermeiden, lebt ungesund.“
Wer ohne die nächste Reise nicht zur Ruhe kommt, kann gegensteuern – auch wenn „Reisesucht“ keine anerkannte Sucht ist. Hilfreich sind Selbstreflexion, stabile Routinen und soziale Bindungen, die den Drang abschwächen. Auch bewusst reisefreie Phasen können helfen.
Reiseforscher wie Brein beobachten überwiegend wohltuende Effekte schöner Urlaube: So habe das Reisen in vielen Fällen nicht unbedingt nur etwas mit dem Entdecken des Unbekannten zu tun. Denn viele Urlaubende suchen nicht nach Abenteuer, sondern nach Entspannung und Wiederholung. „Viele Menschen suchen die Wiederholung wunderbarer Erinnerungen. Viele kehren immer wieder an dieselben Orte zurück, weil sie dort positive Erfahrungen gemacht haben“, erklärt Brein.
Ob das Reisen einen positiven Effekt auf uns hat, liegt also stark in der Antwort auf die Frage begründet, ob wir aus Abenteuerlust und Freude reisen oder eher das Gefühl haben, verreisen zu müssen, weil wir unser Leben ansonsten nicht ertragen.