Die Kundschaft für den Sommerhit ist feierfreudig, trendbewusst und musikalisch etwas kurzatmig, nur selten ist sie über 30 Jahre alt. Leute allerdings, die sich bei Sonnenschein und zugezogener Gardine Streichquartette von Johannes Brahms auflegen, sind ehrenwerte Menschen, spielen aber für die Gattung Sommerhit nur eine Nebenrolle. Spricht die leichtlebige Zielgruppe eher für oder eher gegen diese Lieder, die lediglich für ein paar Wochen durch die Hitze surren wie ein dicker Brummer, den man nicht überhören kann?
Die Zeit der Sommerhits scheint eigentlich vorbei, man kann sich nicht mehr einigen auf diesen einen Song, weil jeder seine Playlist hat, die man sich bei den Streaming-Diensten selbst zusammenbaut. Sommerlieder wurden früher durch das Radio geprägt, weil sie in Endlosschleife liefen, doch das Radio hat seine Deutungshoheit über den Musikgeschmack verloren. Das Radio plaudert uns beim Frühstück voll, wenn wir noch nichts zu sagen haben. Wenn wir uns aufrichten und in den Tag, beziehungsweise in den Sommer treten, spielen wir die Lieder eigener Wahl.
Dass die Vermutung allerdings, mit Sommerhits sei es vorbei, weil alles furchtbar individualisiert zugehe in der aktuellen Poplandschaft, nicht stimmt, hat sich im vorvergangenen Jahr erwiesen. Wer 2022 auch nur einen Meter vor die Tür ging, ganz gleich, ob vor die heimische oder vor eine Tür in einer Ferienregion, hörte diese ersten Synthesizer-Takte, in die sich eine Männerstimme mischte, die schwelgte, säuselte und irgendetwas sang von einer alten Zeit, man hatte das nicht ganz genau verstanden. Wichtig ist, dass man die Sommerhits nicht tiefgehend durchdringt, sondern sich auf all die Brocken Englisch seine eigenen Reime macht. Dieser Mann, der säuselte und schwelgte, hieß Harry Styles, sein Lied hatte den Namen „As It Was“, es klang sehr ähnlich wie ein Song der Band The Strokes. Für Plagiats-Debatten allerdings ist so ein Sommer viel zu heiß. Und letztlich ist ein Sommerhit für all den Aufwand der Juristen auch zu unbedeutend. Ein Sommerhit schießt in die Luft, entfaltet Feuerwerk und Knallerei, unter 15 Grad haucht er dann schnell sein Leben aus. Für eine Oldie-Show wird er nach Jahren ausgegraben. Wisst ihr noch, 2022, Toskana, 40 Grad? Harry Styles und kalter Ananas-Saft haben uns am Leben gehalten.
Weil man einen Sommerhit nicht ganz verstehen muss, sondern eher als Hitzefantasie begreift, die assoziative, falsche, lustige Verbindungen im Hirn erzeugt, ist ein deutscher Hit die Ausnahme, wie ihn Peter Fox mit „Haus am See“ im Jahr 2008 zusammenschraubte. Deutsch ist uns zu deutlich. Doch sogar das Lied von Fox war angenehm verwirrend, weil es zwischen linker Subkultur („Ich suche neues Land mit unbekannten Straßen / Fremde Gesichter und keiner kennt mein‘n Namen“) und Macho-Attitüde („die Mamas kochen und wir saufen Schnaps“) einen Widerspruch erzeugte, der im Fazit mündet: Eh alles egal, ich habe keine Lust, das jetzt genauer zu verstehen.
Ab 30 Grad ist alles einerlei. So soll es sein. Darum vermischen sich die Gattungen des Sommerhits und des Mallorca-Hits so oft. Eigentlich sind das verschiedene Schulen, denn auf Mallorca fängt das Leben erst um 22 Uhr an. Ein echter Sommerhit hingegen hat das Zeug, dich auch um 6 Uhr morgens aus dem Bett zu fegen, falls du ins Büro musst. Könnten das auch Jürgen Drews und Mickie Krause, der Schlager-Adel von Mallorca? Kaum. Ihre Texte sind in einem Aggregatzustand daheim, in dem man nicht mehr weiß, ob die Erde eine Kugel oder doch ein Bierkrug ist. Im Büroalltag sind sie verloren. Ein Blick auf Sommerhits der letzten Jahre: The Beach Boys mit „Good vibrations“ (1966), Bryan Adams mit „Summer of ‚69″ (1984), Will Smith mit „Miami“ (1997), Ricky Martin mit „Livin‘ la Vida Loca“ (1999), Santana feat. Rob Thomas mit „Smooth“ (1999), Nelly mit „Hot in Herre“ (2002), Sean Paul mit „Temperature“ (2006), Katy Perry mit „California gurls“ (2010), Robin Thicke feat. Pharrell Williams & T.I. mit „Blurred lines“ (2013), Luis Fonsi & Daddy Yankee mit „Despacito“ (2017), Calvin Harris & Dua Lipa mit „One kiss“ (2018), Lil Nas X feat. Billy Ray Cyrus mit „Old town road“ (2019), The Weeknd & Ariana Grande mit „Save your tears“ (Remix) (2021), Olivia Rodrigo mit „good 4 u“ (2021).
Wenn das alles für Sie Fach-Chinesisch ist, falls Sie keinen kannten außer Bryan Adams und den Beach Boys, machen Sie sich nichts daraus. Bleiben Sie bei Ihrem Streichquartett von Brahms. Ein bisschen Zeitgeist aber tut der Liebe gut, auch der Liebe zum Sommer. Selbst eine Kugel Eis ist nicht geschaffen für die Ewigkeit, und trotzdem macht sie uns für drei Minuten glücklich. Wie so viele dieser Sommerhits, die mittlerweile längst versunken, ähm, geschmolzen sind.
Wie sieht es aus in diesem Jahr, wie heißt der Hit des Sommers? Vielleicht war es ein Sommer ohne Lied. Das sind die Jahre, in denen zu viel Ernst die Schlagzeilen beherrscht. Reden wir im Sommer 2024 mehr von Kamala Harris oder von der Hitparade? Und wäre das ein gutes Zeichen, weil wir nach der Devise „First things first“ das Leben bei den Hörnern packen, die wichtigen Dinge zuerst? Oder klänge sowas wie ein Armutszeugnis, weil wir die eigene Seele, die dringend auch mal eine Pause braucht, nicht mehr zum Schaukeln kriegen?
Die Vorschlagsliste für den aktuellen Sommer? Spotify, die Referenz für jede Art von Popmusik, hat 80 Kandidaten für den Sommerhit 2024 aufgeführt. 80? Hier sieht man die Beliebigkeit der Diskussion. Wir nennen nur die ersten drei: „Baddy on the floor“ von Jamie xx und Honey Dijon, „Bet“ von Mette und „Texas hold em“ von Beyoncé. Bis die 80 Lieder ausgespielt sind, ist der Sommer vorbei.
Fahren wir jetzt erstmal in den Urlaub. Schauen, ob in dem Café, in dem wir gegen 16 Uhr den Cappuccino trinken, immer dieser eine Song läuft, den wir nicht mehr aus dem Ohr bekommen. Falls es dieses Lied nicht gibt, greifen wir zum Fundus. „Good vibrations“ von den Beach Boys lieben wir noch immer. Ob die Vibrations dieses Jahr tatsächlich gut sind, oder schlecht, hängt von anderen Interpreten ab. Und von einer anderen Jahreszeit. Die Wahl in Amerika liegt im November. Kein Sommer mehr und keine Beach Boys. Zeit für ein Streichquartett von Brahms.