Was das Smartphone und die App hier mit dem Mädchen machen, ist klassische Konditionierung: Reiz, Reaktion, variable Belohnung. Nur dass die Netzwerke heute diesem Modell noch einen vierten Schritt hinzugefügt haben. Einen, der mit den Ratten aus frühen Experimenten nicht möglich war. Menschen aber, Kinder zumal, lassen sich dazu bringen, selbst etwas für die erhoffte Belohnung zu investieren. In diesem Fall heißt das: ein Profil anzulegen, Kommentare und Fotos zu posten. Sodass das Kind gar keine Nachricht, keinen Trigger mehr braucht, um die App zu öffnen. Sondern dass es das, in der unbewussten Hoffnung auf einen Schuss Dopamin, von allein tut – sodass es „am Haken hängt“.
Dass Betreiber sozialer Netzwerke diese Mechanismen bewusst nutzen, hat die Whistleblowerin und frühere Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen 2021 enthüllt. Interne Präsentationen leiten dazu an, jene Phase, in der die für die Impulskontrolle zuständigen Hirnbereiche in Teenager-Köpfen noch kaum entwickelt sind, bewusst zu nutzen. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt wiederum zitiert in seinem Buch „Generation Angst“ diese Enthüllungen, um eine seiner zentralen Thesen zu stützen: „Als wir Kindern und Heranwachsenden Anfang der 2010er-Jahre Smartphones in die Hand drückten, gaben wir Unternehmen die Möglichkeit, (...) ihre Nutzer in den sensibelsten Jahren ihrer zerebralen Neuverdrahtung wie Ratten zu konditionieren“, sagt er. „Diese Unternehmen entwickelten abhängig machende Apps, die einige sehr tiefe Bahnen ins Gehirn unserer Kinder schliffen.“
Starker Tobak? Der Verdacht gegen das Smartphone und die sozialen Medien ist so alt wie das Gerät selbst. Gerade in Deutschland stehen sich Kritiker, angeführt vom Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, und eine eher technikaffine Fraktion unversöhnt gegenüber. Der US-Amerikaner Haidt, Wissenschaftler an der New York University, nimmt für sich in Anspruch, jenseits des Ideologischen zu argumentieren – auch aus der Position eines Vaters heraus, der seinen Kindern Smartphones und iPads gab –, und sich heute fragt, was er ihnen damit antat. Haidts Buch erschien im März in den USA – und wurde zum Bestseller. Jetzt ist es auf Deutsch erschienen.
Haidt wertet darin Dutzende Studien aus und bringt zwei Entwicklungen zusammen: Die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen in den vergangenen Jahren – und die zunehmende Verbreitung von Smartphones bis in praktisch alle Haushalte und Kinderhände. So stiegen zum Beispiel die Diagnosen von Depressionen bei Teenagern seit 2010 um das Zweieinhalbfache, auch die Zahl der Suizide und Selbstverletzungen stieg stark an. Haidt spricht von einem „plötzlichen Kollaps der psychischen Gesundheit von Minderjährigen“, betroffen seien vor allem Mädchen. Die Zahlen stammen aus den USA, gälten ähnlich aber auch für andere westliche Staaten.
Ungefähr zur selben Zeit wiederum setzte sich das Smartphone durch, wurde der Like-Button erfunden, wurden aus Kommunikationsmedien die sozialen Netzwerke heutiger Prägung, lud die Frontkamera zu Selbstaufnahmen und -inszenierung ein. In der Kombination hatte dies fatale Folgen. Der „Überbehütung in der realen Welt“ stehe die „Unterbehütung in der virtuellen Welt“ gegenüber – beides sind „die Hauptursachen dafür, dass nach 1995 geborene Kinder zur ‚ängstlichen Generation‘ wurden“.
Frank Fischer, Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhauses des Kinder- und Jugendkrankenhauses Auf der Bult in Hannover: „Die neurobiologischen Konsequenzen der Medienabhängigkeit sind in Deutschland noch nicht gut diskutiert. Aber jeder, der mit Kindern, Psychologie und Pädagogik zu tun hat, weiß, dass da etwas passiert, das für unsere Gesellschaft hochrelevant ist. Auch in der Klinik sehen wir, dass es immer mehr Kinder mit psychischen Störungen gibt und dass diese Störungen gravierender werden. Schulverweigerung, Angststörungen, soziale Phobien, traumatische Erfahrungen nach Mobbing, Depressionen – das sind alles Riesenthemen bei Kindern. Das ist auch ein Effekt der Pandemie – aber bei Weitem nicht nur. Die Pandemie hat diese Entwicklung wahrscheinlich nur verstärkt.“
Professor Michael Schulte-Markwort leitete bis 2020 die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Eppendorf in Hamburg. Heute betreibt er kinder- und jugendpsychiatrische Praxen in Berlin und Hamburg und ist Ärztlicher Direktor der Oberberg-Fachkliniken. Er sagt: „Jonathan Haidt erliegt dem alten falschen Glauben, dass mit den nachfolgenden Generationen alles immer schlimmer würde – und er schließt fälschlicherweise von den Eltern auf die Kinder. Vor 25 Jahren hatte ich Väter in meiner Praxis, die klagten darüber, dass ihre Töchter telefonsüchtig seien und die einzige Leitung blockierten. Heute ist es eben das Handy. Ein geliebtes, psychisch gesundes Kind wird durch ein Handy nicht krank. Die Zunahme der Patientenzahlen ist ein schwieriges Phänomen. Etwa 20 Prozent der Kinder sind psychisch auffällig, diese Zahl ist konstant. Aber die Eltern sollen inzwischen besonders wachsam sein, und sie kommen mit ihren Kindern heute schneller und früher. Auch sind die Zukunftsaussichten mit nahen Kriegen und dem Klimawandel heute düsterer als früher.“
Inés Brock-Harder, Psychotherapeutin in Halle/Saale und Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie: „Dass Smartphones und Tablets psychische Probleme verursachen oder verschärfen, ist unsere tägliche Erfahrung in den Praxen, aber es entspricht auch der Studienlage: Nach einer Untersuchung der DAK zeigt ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland eine riskante Nutzung digitaler Medien, das sind fast 1,3 Millionen Mädchen und Jungen.“
Die häufigste Kritik an Haidt lautet, er verwechsle Kausalität und Korrelation, setze also Phänomene in Beziehung, die zwar zeitgleich abliefen, aber ursächlich nichts miteinander zu tun hätten. Stattdessen könne man auch, so ein etwas polemischer Einwand, den gestiegenen Konsum von Kartoffeln für die psychischen Störungen von Jugendlichen verantwortlich machen. Haidts Erklärungen seien zudem einseitig: Die niederländische Medienwissenschaftlerin Patti Valkenburg nennt in einem Unicef-Bericht zehn Gründe für die gestiegenen psychischen Probleme bei Jugendlichen, von Zukunftssorgen über gestiegenen Schulstress bis zur Corona-Pandemie.
Haidt weist all dies zurück. „Es gibt keine andere Theorie, die erklären kann, warum die psychische Gesundheit von Teenagern seit 2010 fast überall eingebrochen ist“, sagt er. Zudem zeigten die allermeisten Studien, dass eine zunehmende Nutzung sozialer Medien der Zunahme von Depressionen vorausgehe. Auch könne eine Entstigmatisierung psychischer Krankheiten nicht der Grund sein. „Die Kombination aus Selbsteinschätzung und Verhalten zeigt, dass sich im Leben der Jugendlichen um 2010 wirklich etwas geändert haben muss.“
Frank Fischer: „Bei uns in der Klinik haben die Jugendlichen kein Handy mehr. Am Anfang der Therapie steht ein Deal: Therapie bedeutet, dass sie sich von der virtuellen Welt erst mal verabschieden müssen. Am Anfang steht der Entzug der Hardware und des Zugangs zum Netz. Im Verlauf der Therapie kommt der Abschied von der virtuellen Identität hinzu: Es gehört zur Aufgabe der Rückfallprävention, dass die Jugendlichen ihre Accounts löschen. Das ist oft ein dramatischer Prozess, denn der Abschied von zum Beispiel virtuellen Gaming-Erfolgen löst bei vielen eine sehr starke Traurigkeit aus, die an die Trauer beim Abschied von geliebten Menschen erinnert. Diese Trauer zeigt auch, wie sehr die virtuelle Identität die nicht existierende Bindung im realen Leben ersetzt.“Michael Schulte-Markwort: „Bei uns sind Smartphones nicht verboten. Das wäre vollkommen lebensfremd. Ich habe hier Mädchen, die als Influencerinnen Zehntausende Euro im Monat verdienen. Soll ich denen sagen, sie sollen ihr Handy abschaffen? Wir sind eine der ganz wenigen Kliniken, in denen es keine starre Hausordnung gibt, sondern in denen wir die Regeln rund um die Uhr auf Augenhöhe aushandeln – und das funktioniert gut. Wenn ich höre, dass Kinder und Jugendliche Erwachsene ‚austricksen‘ und ‚hintergehen‘ wollten und sich so zusätzliche Onlinezeiten erschlichen, dann fällt das vor allem negativ auf die Erwachsenen zurück.“Haidt fordert vier Punkte als Konsequenz aus den Studien: mehr freies, unüberwachtes Spielen in der Wirklichkeit. Schulen ohne Smartphones. Keine Handys bis 14. Und keine sozialen Medien vor dem 16. Lebensjahr. „Lassen Sie Ihre Kinder durch die empfindlichste Phase ihrer Hirnentwicklung gehen“, so Haidt, „bevor sie Zugang zu einem Hexenkessel aus sozialem Wettbewerb und algorithmisch vorausgewählten Influencer-Inhalten bekommen.“
Frank Fischer: „Kein Smartphone vor 14, Social Media frühestens ab 16: Da gehe ich vollständig mit. Aus neurobiologischer Sicht ist der wichtigste Satz, den man sich merken kann: Je später, desto besser. Das hat nichts mit Ideologie zu tun, sondern einfach mit neurobiologischen Erkenntnissen und auch mit Bildungswissenschaft. Man kann sich Dinge besser merken, wenn man sie aus einem Buch gewonnen und womöglich noch von Hand aufgeschrieben hat, als wenn man sie im Internet recherchiert hat.“
Michael Schulte-Markwort: „Wir sollten uns mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam über das Handy beugen und uns für die Inhalte interessieren – und anschließend mit ihnen darüber reden, was wir gesehen haben, aber ohne zu moralisieren.“
Haidt jedenfalls glaubt zu wissen, wie man rückblickend auf diese Phase schauen wird: „Das Aufwachsen in der virtuellen Welt fördert Angst, Anomie und Einsamkeit“, sagt er. „Die große Neuverdrahtung der Kindheit von einer spielbasierten zu einer smartphonebasierten Kindheit war ein katastrophaler Fehler.“