Mehr als 400 Kilometer erstreckt sich das Schelfeis am Rande der Antarktis. Die weiße Eiswüste gehört zu den einsamsten und am wenigsten erforschten Gebieten der Erde. Vor allem über das Leben unter dem Eispanzer wissen die Forscher und Forscherinnen wenig. Mit Schiffen oder U-Booten ist es kaum möglich, in diese Region vorzudringen. Dabei ist das Schelfeis durchaus interessant. Im kalten Wasser leben unbekannte Meeresbewohner. Außerdem entstehen hier große Mengen an Nährstoffen, die eine wichtige Nahrungsgrundlage für Säugetiere, Vögel und Fische in der Region sind.
Um die biologischen Prozesse unter dem Eis besser zu verstehen, setzen die Forscher und Forscherinnen seit einigen Jahren auf tierische Hilfe: Sie rüsten einzelne Robben oder Seeelefanten mit Messgeräten und Kameras aus und sammeln so wichtige Daten, etwa über das Tauchverhalten der Tiere, aber auch darüber, welchen Sauerstoff- und Salzgehalt und welche Temperatur das Wasser hat. All das kann sich auf die Verfügbarkeit von Nahrung auswirken. Mittelfristig sollen die Daten in die Klimabeobachtung der Antarktis einfließen.
Seeelefanten und Robben sind bei Weitem nicht die einzigen Tiere, die beim Umweltmonitoring helfen. Albatrosse können meteorologische Informationen sammeln und Haie den CO2-Gehalt des Wassers messen, wenn Forscher und Forscherinnen Geräte an den Tieren befestigen. Für Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie ist das erst der Anfang: „Tiere nur als Bojen für Messgeräte zu benutzen, ist zu kurz gedacht. Viel wichtiger ist es, ihr Verhalten in die Beobachtungen und Analysen einzubeziehen. Gerade das verrät uns wahrscheinlich viel mehr, als wir bisher gedacht haben.“ Zum Beispiel für Wettervorhersagen oder als Frühwarnsystem vor Naturkatastrophen.
Ganz neu ist das nicht. Schon Naturforscher Alexander von Humboldt berichtetet 1797 von panischen Tieren kurz vor einem Erdbeben in Venezuela. Bei großen Tsunamis wie im Dezember 2004 gab es Berichte von zuvor flüchtenden und unruhigen Tieren. Und Zugvögel scheinen aufziehende Orkane frühzeitig zu erkennen und zu umfliegen. Wikelski und seine Kollegen und Kolleginnen beschäftigen sich intensiv mit dem Frühwarnsystem der Tiere. So untersuchten sie Fregattvögel in der Karibik, die offenbar nahende Stürme erspüren können.
Doch wie können die Forscherinnen und Forscher erkennen, ob Tiere wirklich vor einer Naturkatastrophe fliehen und nicht vor Raubtieren oder menschlichen Einflüssen? „Viele Anekdoten und Geschichten über ein solches Verhalten sind sehr alt. Nun können wir mithilfe von Satelliten und Sendern überprüfen, welche Tiere als Frühwarnsystem genutzt werden können“, sagt Wikelski. Großen Anteil daran hat der technologische Fortschritt. Sender sind inzwischen so kompakt, dass selbst Fledermäuse und Singvögel damit ausgestattet werden können, ohne ihre Bewegungsfreiheit allzu sehr einzuschränken. Zudem sind die Preise für die notwendige Technik stark gefallen. Dadurch können viel mehr Tiere besendert werden.
Wikelski hat daher eine Vision: ein Internet der Tiere. Über das satellitengestützte Icarus-System – die Abkürzung steht für International Cooperation for Animal Research Using Space – sollen alle gesammelten ökologischen Daten gebündelt werden. Bisher lief das System über eine Antenne auf der Internationalen Raumstation (ISS), doch Russlands Überfall auf die Ukraine machte einen Neustart erforderlich. Bis Juli 2025 soll nun das neue Satellitensystem seine Arbeit aufnehmen und als globales Beobachtungssystem dienen, das für Forscher und Forscherinnen sowie Institutionen weltweit zugänglich und nutzbar sein soll.
Tierdaten könnten auch aus der passiven Tierbeobachtung mithilfe von Sensoren einfließen, die nicht direkt am Tier angebracht sind. Auch bei solch einer Tierbeobachtung zum Beispiel mit Fotofallen oder Audiorekordern gibt es einen großen Technologiesprung. „Wir können heute mit Audiorekordern die Artenvielfalt von Vögeln erfassen oder Fledermäuse anhand ihres Schalls automatisiert klassifizieren. Fotofallen geben uns Einblick in die Artenvielfalt in der Stadt oder im Urwald“, sagt Frank Dziock, Professor für Tierökologie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden.
Doch mit dem Sammeln von Daten allein ist es nicht getan. Es braucht auch geeignete Werkzeuge, um die riesigen Datenmengen auszuwerten. Dabei kommt Künstliche Intelligenz zum Einsatz. „Spezielle KI-Anwendungen können uns bei der Auswertung der Daten helfen. Sie finden zum Beispiel Auffälligkeiten in Bewegungsmustern oder Audioaufnahmen und können dann die Forscher und Forscherinnen informieren“, erklärt Dziock.
Im Amazonas-Regenwald etwa wird an verschiedenen Stellen mit Mikrofonen in den Regenwald hineingehorcht und nach Unregelmäßigkeiten gesucht. Mischen sich in das Brüllen der Affen und das Zwitschern der Vögel Geräusche von Sägen oder Fahrzeugen? Dann wird bei den örtlichen Rangern und Rangerinnen Alarm ausgelöst. Sie machen sich auf die Suche nach illegalen Rodungen oder Wilderern.
Der große Vorteil: Dank der Sensordaten und ihrer Interpretation wissen Forscher und Forscherinnen und die Natur Schützende genau, wonach sie suchen müssen, und sie müssen sich viel kürzer im Lebensraum der Tiere aufhalten. Für Wikelski geht der Nutzen dieses Umweltmonitorings weit über die Biologie oder den Artenschutz hinaus. „Wenn es uns gelingt, alle Sensoren und Messgeräte der Tierbeobachtung zusammenzuführen und allgemein zugänglich zu machen, dann bekommen wir einen ganz neuen Blick auf unseren Planeten, auf Prozesse, die wir heute noch nicht einmal erahnen können“, sagt er. Am Ende könne das nicht nur helfen, Katastrophen besser vorherzusagen oder die Folgen des Klimawandels zu erkennen, sondern auch dabei, ein neues Bewusstsein für den Wert der Tiere und ihrer Lebensräume zu schaffen. Ganz nach dem Motto „Was uns schützt, schützen wir auch“.