Uysal greift nach oben und dreht an einem Knopf. Die Stimmen verstummen. „Als Mädchen kannst du dir in diesem Job keinen Fehler erlauben. Sonst heißt es immer gleich, dass das nur passiert ist, weil du eine Frau bist“, erzählt die erfahrene Pannenretterin. Für sie sind diese Vorurteile unverständlich: „Ich staune, dass die Menschen staunen, wenn ich komme.“
Bis heute kann sich Uysal gut an den Tag erinnern, an dem sie ihren heutigen Chef zum ersten Mal traf. „Er war ein Bekannter meiner besten Freundin, die damals in einer Tankstelle arbeitete. Eines Tages ist er dort vorbeigekommen und hat sie gefragt, ob sie jemanden kennen würde, der als Fahrer für sein Abschleppunternehmen infrage komme“, berichtet sie. Ihre Freundin habe sofort Uysal empfohlen, die zufällig gerade in der Tankstelle saß. „Ich hatte eine Jeans an und Pumps. Er meinte nur: ‚Nein, als Fahrer. Nicht fürs Büro.‘“ Allerdings hatte Uysal einen Lkw-Führerschein – und damit ein starkes Argument in der Tasche. Doch die Skepsis des Mannes blieb. Noch am selben Abend sollte Uysal ihre Fahrkünste beweisen. „Und dann habe ich ihm erst mal gezeigt, wie man fährt“, erzählt sie mit einem triumphierenden Lachen.
Seitdem ist Uysal für den ADAC im Einsatz. „Master of Desaster“ steht außen auf dem Führerhaus ihres Abschleppwagens. „Ich bin Abschleppwagenfahrerin, Reifenwechslerin und oft auch Seelsorgerin“, beschreibt Uysal die Vielseitigkeit ihres Berufs. Ihre Einsätze sind oft herausfordernd, beispielsweise dann, wenn sie zu einer Panne auf der Autobahn gerufen wird. Dann muss sie das Fahrzeug inmitten von Hochgeschwindigkeitsverkehr, Lärm und Abgasen auf ihren Wagen laden und gleichzeitig darauf achten, dass ihre Klientinnen und Klienten sich nicht in Gefahr bringen. Oft sind diese in emotionalen Ausnahmezuständen, berichtet Uysal. „Sie sind traurig oder wütend. Da muss man deeskalierend und tröstend sein.“ Doch das falle ihr leicht: „Ich habe viel zu viel Empathie.“
Als Kind habe sie deshalb davon geträumt, Profilerin zu werden – ein Job, den viele Menschen aus Krimiserien wie „CSI: Vegas“ kennen. Profiler und Profilerinnen versuchen, aus den Indizien am Tatort Hinweise auf die Persönlichkeit und das Verhaltensmuster der Täter zu finden. „Auch da braucht man ein gutes Gespür für Menschen.“ Aber auch eine Affinität zur Kfz-Mechanik habe sie schon früh entwickelt – aus Liebe zu ihrem Bruder, einem begeisterten Auto-Schrauber. „Wenn ich mit ihm Zeit verbringen wollte, musste ich mit ihm unters Auto kriechen.“ Der Start ins Berufsleben führte die Frau, die 1982 mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland gezogen war, dann allerdings zunächst auf ganz andere Wege. Uysal arbeitete als Tellerwäscherin und kämpfte sich auf der Karriereleiter nach oben, bis sie Inhaberin eines italienischen Restaurants wurde. Im Jahr 2005 zog sie von Nienburg nach Hannover. Dort war sie bis zu ihrer Stelle als Pannenhelferin als Empfangsdame in einem Restaurant tätig. „Ein Job muss entweder cool oder einfach sein“, findet Uysal. Coole Jobs, das sind für sie Berufe, in denen man anderen helfen kann und als Retter dasteht. Und ganz wichtig: „Meine Jungs müssen stolz auf mich sein können.“
„Ihre Jungs“, damit meint Uysal ihre beiden Söhne, die 20 und 21 Jahre alt sind. Sie selbst kommt aus einem konservativen Elternhaus, berichtet die Pannenhelferin. Das sei nicht immer einfach gewesen: „Ich war schon immer eine Rebellin. Ich bin beispielsweise die Einzige aus der Familie, die sich hat scheiden lassen.“ Ihre Berufswahl begrüße ihre Familie jedoch: „Mein Vater war vermutlich zum ersten Mal wirklich stolz auf mich, als er gehört hat, dass ich mit ADAC-Klamotten durch die Gegend laufe.“
Mit ihrer fachlichen Expertise und ihrem freundlichen, selbstbewussten Auftreten beeindruckt Uysal viele der Menschen, die sie von der Straße rettet. Unter ihnen war auch ein Bekannter des NDR-Filmemachers Tobias Hartmann (48). Schnell wurden Nummern ausgetauscht und der Kontakt hergestellt – und nach etwas Bedenkzeit war Uysal schließlich bereit, sich bei der Arbeit von Hartmann mit seiner Kamera begleiten zu lassen.
Fünf Tage lang waren sie im Frühjahr 2024 gemeinsam auf den Straßen in und um Hannover unterwegs. „Wir waren von Anfang an ein gutes Team“, sagen beide. Und tatsächlich: Wenn sie sich unterhalten, wird viel gelacht und gescherzt. Ihm sei es besonders wichtig gewesen, ein authentisches Bild von Uysal zu übermitteln, erzählt der Filmemacher. Das sei ihm auch gelungen, findet er: „Ich hatte immer das Gefühl, dass sie sich auch vor der Kamera so zeigt, wie sie wirklich ist.“ „Etwas nervös war ich schon – es war natürlich eine ungewohnte Situation, vor der Kamera zu arbeiten“, räumt Uysal ein. „Aber je länger wir gefahren sind, desto lockerer wurde es.“
Jetzt freuen sich beide auf die Veröffentlichung des Films. Er sei immer etwas aufgeregt, wenn einer seiner Filme veröffentlicht werde, verrät Hartmann. Aber es sei eine freudige Aufregung. Besonders gespannt sei er auf die Kommentare auf Youtube: „Die lese ich mir immer total neugierig durch.“
Uysal hat sich für die Premiere mit ihrer Familie zum Fernsehen und gemeinsamen Abendessen verabredet. „Zehn oder elf Leute werden wir sein. Ich werde schön kochen und es gibt Popcorn.“ Auch Uysals Familienmitglieder in der Türkei freuen sich schon darauf, sich den Film anzuschauen.
Online ist die Reportage in der ARD Mediathek und auf dem NDR Youtube Channel abrufbar.