Klassische Musik kommt aus den versteckten Lautsprechern, durch die Oberlichte der Halle fallen an diesem Februarmorgen Sonnenstrahlen. Fast sakral wirkt der Saal, wenn man ihn betritt, der Blick wandert unverstellt in die Tiefe – und bleibt an den „Verlassenschaften“ hängen. „Mein Mann war der Sammler“, sagt die 53-Jährige über den 2012 verstorbenen Hans-Jürgen Breuste (†78).
Die Walzen im Eingangsbereich, auf denen in weißer Schrift ein Gedicht steht, stammen aus der Döhrener Wolle. Ein Stück Hannover-Geschichte – wie vieles hier. In Gitterkästen lagern Millionen Metallteile, deren Bestimmung ein Rätsel bleibt. Verkrumpelte Teerpappen sind ordentlich zu Haufen gestapelt, lange gusseiserne Schöpfkellen liegen in Reih und Glied, Tausende Gummidichtungen für Autokarosserien winden sich wie Schlangen in Metallkörben, die übereinander stehen. Zeugnisse von Hannovers Industriegeschichte. Denn das stillgelegte Continental-Werk an der Landspitze in Limmer, auf der heute die Wasserstadt wächst, war lange die Spielwiese des Künstlerpaares.
„Es gab eine Zeit, da dachten wir, die Conti gehört uns“, erinnert sich Breuste. In Halle 76 und in Kellerräumen sammelte Hans-Jürgen Breuste, der einst eine Ausbildung zum Maurer gemacht hatte, später Lehraufträge an Kunsthochschulen hatte, Hunderte Tonnen Material. Der Umzug nach Ahlem war ein Kraftakt. „Hier ist Kunst wirklich Schwerstarbeit“, sagt die 53-Jährige mit einem feinen Lächeln. Ab 1997 hatte das Paar containerweise das Material aus den zum Abriss verdammten Conti-Hallen in das ehemalige Umspannwerk der PreussenElektra gebracht. In den Rosenbuschweg 9.
Das „n“ fehlt im Namen „Rosebusch Verlassenschaften“, um den Kunstort von der Adresse zu entkoppeln. Und Verlassenschaften sei das österreichische Wort für Hinterlassenschaften – um die es sich ja drehe. „Aber es hat eine schöne doppelte Bedeutung“, erklärt Almut Breuste. Natürlich sei der Akt des Ver- oder Hinterlassens das „große Thema“, doch es gehe auch darum, sich auf etwas oder jemanden verlassen zu können. Vielleicht auch, weil die Objekte massig, unverrückbar wirken. „Sie stehen für Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen.“2012 wurden die „Verlassenschaften“ der Öffentlichkeit vorgestellt – einige Monate nach Hans-Jürgen Breustes Tod. Und nach langwierigen Sanierungsmaßnahmen: Fluchtwege, Brandschutz und Sanierung der Elektroanlagen waren notwendig, Stadt und Land Niedersachsen bezuschussten die Umwandlung des früheren Kraftwerkes zum Kunstort. „Wir brauchten damals ein neues Zuhause für ,Litzmannstadt’“, sagt Almut Breuste. Die Installation mit 2500 Lazarettliegen in meterlangen Reihen, Namenslisten von Deportierten und Fotografien von Zwangsarbeitern ist in Besitz des Landes. Und ein Stück Erinnerungskultur: Die Nazis hatten das polnische Lodz in Litzmannstadt umbenannt und zu einem Getto für die jüdische Gemeinde Polens gemacht.
Dieses Werk macht nur einen Teil der „Rosebusch Verlassenschaften“ aus, doch Breuste beobachtet oft, dass Besucherinnen und Besucher die Beklemmung, die es verursacht, nur schwer abschütteln können. Dabei würde sie den Fokus auch gerne auf andere Aspekte lenken – die Aktualität zum Beispiel. Die ist in ihren eigenen mannshohen Gemälden, die in der Halle Akzente setzen, überdeutlich: Szenen mit spielenden Kindern in Afghanistan, einem Land, das zurück ins Dunkel taumelt, aber in dem Jungs Drachen steigen lassen. Aktualität hat aber auch das historische „Verlassenschaften“-Material. Breuste zeigt Körbe mit luftig-leichten Klötzen, die in Jutestoff stecken. Die 53-Jährige nimmt eines der Objekte, dreht und wendet es, findet die Jahreszahl 1964. „Das sind Schwimmwesten“, erklärt sie. Wie die riesigen Haufen schmutzigweißer Spanngurte stammen sie aus dem Hamburger Hafen. Angesichts der oft tödlichen Fluchtrouten über das Mittelmeer werden die antiquarisch wirkenden Rettungswesten mit neuer Bedeutung aufgeladen.
„Es ist ein Mosaik aus allem“, sagt Almut Breuste über das Gesamtkunstwerk aus Eisen, Holz, Textilien und Gummi. „Ich sehe es als ein Bild, das ich seit 27 Jahren male, es verändert sich.“ Zu Beginn seien die Umbrüche groß gewesen. „Aus dem Chaos in die Struktur“, so beschreibt sie den Prozess des Sammelns und Ordnens, den vor allem ihr Mann getragen hatte. „Aus der Struktur in die Klarheit und in die Reduktion“, darin sieht sie vor allem ihre künstlerische Aufgabe. Work in Progress nennt man das. „Es war immer gut für den Moment“, sagt sie und hält inne. „Aber nun ist es gut, so wie es ist.“ Im Jahrzehnt nach seinem Tod sei Hans-Jürgen Breuste immer noch sehr präsent gewesen, die Unruhe sei nun weg.
Regelmäßig öffnet Almut Breuste die Turbinenhalle fürs Publikum, regelmäßig kommen Schulklassen in die „Verlassenschaften“. Allen Besuchern rät sie, vorab nicht zu viel über den Ort zu lesen. „Es ist ein offener Raum“, betont sie. Offen für Interpretationen, Gefühle, Bewertungen. Almut Breuste hält sich lieber zurück mit Informationen. „Es nimmt den Dingen oft den Zauber, wenn ich sage, dass diese schwarzen Teile die Dichtungen eines Audi sind.“
Lieber solle man unbefangen die Gedanken schweifen lassen. In unzähligen Containern liegen tellergroße, schwarze Noppen. „Das sind Membranzylinder für die Federsysteme von Lkw“, erklärt Breuste sachlich. Sie selbst denke eher an die Bibel und die Speisung der Fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen. „Ich will die Schwere in Leichtigkeit umwandeln.“ Das gelingt der Künstlerin, die mit einer Schaukel im Atelier den Moment des Schwebens nur zu gut kennt.
Die Öffnungszeiten: In den Monaten Dezember, Januar und Februar macht die unbeheizte Turbinenhalle Winterpause. Ansonsten sind die „Rosebusch Verlassenschaften“ (Rosenbuschweg 9) in Ahlem immer freitags und sonnabends am ersten vollen Wochenende eines Monats jeweils von 15 bis 19 Uhr geöffnet. Eintritt auf Spendenbasis. Besuche von Gruppen oder Schulklassen sind ganzjährig nach Vereinbarung möglich. Unregelmäßig finden szenische Lesungen und Konzerte statt, bei der „Nacht der Museen“ (in diesem Jahr am 8. Juni) kann man ebenfalls hineinschnuppern. Die „Rosebusch Verlassenschaften“ wurden mit dem Kulturpreis „Pro Visio“ der Stiftung Kulturregion ausgezeichnet. Infos unter rosebuschverlassenschaften.de