Dass jetzt Rechtsextremisten und AfD-Politiker bei einem Geheimtreffen in Potsdam konspirative Pläne beraten haben, bereitet der 90-Jährigen große Sorgen. Sie fühlt sich an den Aufstieg der Nazis erinnert. „Ich sehe da große Parallelen zur Gegenwart“, sagt sie. Die hellwache alte Dame spricht langsam, sie wägt ihre Worte ab: „Es heißt immer, Geschichte wiederholt sich nicht“, sagt sie, „aber für mich sieht es leider ganz danach aus.“
Ruth Gröne, geborene Kleeberg, kam 1933 in Hannover als Kind eines jüdischen Vaters und einer nach NS-Maßstäben „arischen“ Mutter zur Welt. Die Ehe bot Mann und Kind zeitweise einen gewissen Schutz. Dennoch verlor Ruth Grönes Vater gleich nach der Machtübernahme der Nazis seine Stelle in einem Kaufhaus, aus „rassischen Gründen“. „Für meine Familie war das nicht leicht“, sagt die 90-Jährige. Und doch sollte das nur ein erster Schritt auf dem Weg zur völligen Entrechtung sein.
Bei dem Treffen in Potsdam machten jetzt Pläne die Runde, sogar deutsche Staatsbürger aus dem Land zu drängen, die eine Migrationsgeschichte haben. „Man muss so etwas leider sehr ernst nehmen“, warnt Ruth Gröne. Sie weiß, dass solche Planspiele Wirklichkeit werden können. „Meine Familie war immer deutsch – kaisertreue deutsche Juden“, sagt sie. Ihr Großvater hatte zwölf Jahre im Heer gedient. „Er hätte sich nie träumen lassen, dass man ihm einmal das Deutschsein absprechen würde.“Und doch bewahrte die Staatsbürgerschaft ihre Familie nicht vor der Willkür der Nazis. Bis heute hat Ruth Gröne die Kennkarte, in der ein großes „J“ ihre jüdische Herkunft stigmatisierte und in der zwangsweise „Sara“ als zweiter Vorname eingetragen wurde.
Ihre Großeltern, Hermann und Frieda Kleeberg, wurden am 15. Dezember 1941 nach Riga verschleppt und ermordet. Ihre Namen stehen auf dem Mahnmal am Opernplatz. Ihren Vater deportierten die Nazis noch Anfang 1945, er starb im KZ Sandbostel. Doch schon viel früher war die Diskriminierung in offene Gewalt umgeschlagen.
Ruth Gröne war fünf Jahre alt und saß auf dem Schoß ihrer Mutter, als die Nazis in ihr Haus kamen. Ihr Vater hatte nach langer Arbeitslosigkeit einen Posten als Hausmeister in der Simon’schen Stiftung in der Wißmannstraße bekommen, wo die Familie die Pogromnacht vom 9. November 1938 erlebte.
Bis heute erinnert sich die Zeitzeugin an die schweren, schwarzen Stiefel der Männer, die in jener Nacht die Wohnung stürmten. Sie raubten Schmuck, den Fotoapparat. „Und sie nahmen das neue Blaupunkt-Radio mit, vor dem ich immer Kinderfunk gehört hatte“, sagt Ruth Gröne. „Vom 9. November 1938 an habe ich immer Angst gehabt.“
Bald beschimpften ehemalige Freunde sie. Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr mit ihr spielen. Sie musste den gelben Stern tragen und wurde mit ihrer Familie zwangsweise in „Judenhäusern“ einquartiert. Auch der Besuch der regulären Schule war der kleinen Ruth verboten. „Die anderen Kinder aus unserer Straße sind am Tag der Einschulung mit Zuckertüten zur Schule gegangen, und ich stand am Fenster und musste zusehen.“
In diesen Tagen fragt sie sich oft, wie der Aufstieg der Nazis wohl zu verhindern gewesen wäre. „Im Jahr 1938 war es schon zu spät“, sagt sie, „da kam man schnell ins KZ, wenn man sich gegen sie stellte.“ Sie überlegt. „Aber eigentlich war es auch 1933 schon zu spät“, sagt sie dann. „Hitler hätte man bereits 1923 endgültig stoppen müssen, als er versuchte, sich an die Macht zu putschen – später war das kaum noch möglich.“
Der Satz „Wehret den Anfängen!“ war immer ihr Credo – und er scheint ihr in diesen Tagen aktueller denn je zu sein. „Wenn wir wieder zu lange warten, werden wieder Rechtsextremisten an die Macht kommen“, fürchtet sie. Der Höhenflug der AfD macht ihr große Sorgen. „Wir alle müssen wachsam sein“, sagt sie, „sonst ist es irgendwann wieder zu spät.“
Ruth Gröne hat sich über Jahrzehnte dafür eingesetzt, die Erinnerung wachzuhalten. Mit einem Arbeitskreis initiierte sie den Bau des KZ-Mahnmals in Ahlem, sie engagierte sich in der Gedenkstätte dort, und immer wieder erzählte sie Schülern ihre Geschichte. „Ich möchte den Jugendlichen vermitteln, dass wir heute in großer Freiheit leben – und dass man diese Freiheit schnell verspielen kann“, sagte sie.
An einigen Gedenkveranstaltungen konnte sie in jüngster Zeit nicht mehr teilnehmen, aus gesundheitlichen Gründen. „Es geht mir nicht gut“, sagt die Frau, die im Sommer 91 Jahre alt wird, „und manchmal frage ich mich, ob alles umsonst gewesen ist.“ Sie atmet erneut tief durch, um sich schließlich aufzurichten: „Aber dann sage ich mir, dass ich meinen Teil geleistet habe“, sagt sie bestimmt. „Ich habe getan, was ich konnte.“ Es klingt, als wollte sie sagen: Jetzt sind alle anderen gefragt.