Der jüdische Emigrant aus Franken war 1945 als Sergeant der 84. Division nach Deutschland zurückgekehrt. Erst nach Jahrzehnten sprach er über dieses für ihn prägende Erlebnis. „Das war die schockierendste Erfahrung, die ich je gemacht habe“, sagte er. Kissinger, der selbst 13 Angehörige im Holocaust verloren hatte, stieß in dem KZ auf ausgemergelte Häftlinge. „Sie waren so ausgezehrt, dass es gefährlich war, ihnen feste Nahrung zu geben, weil sie diese nicht verdauen konnten“, erinnerte er sich.
Mehr als 1000 Menschen waren hier von November 1944 an zusammengepfercht worden. Für die Continental AG mussten sie in den Ahlemer Asphaltstollen unter unmenschlichen Bedingungen schuften. Die Gefangenen litten unter Schlägen, Hunger und Krankheiten. Der Waschraum des KZ diente auch als Hinrichtungsstätte. Etwa 20 Häftlinge wurden hier gehängt. Mindestens 300 Menschen starben in dem Lager, vermutlich jedoch weit mehr. Seit einem Jahr erinnert ein Rundweg mit verschiedenen Stationen auf dem früheren Lagergelände an die düstere Geschichte dieses Ortes.
Bald nach der Befreiung Ahlems verfasste Kissinger ein kurzes Manuskript, das der Historiker Niall Ferguson in seiner Biografie „Kissinger – Der Idealist 1923-1968“ (Propyläen, 1120 Seiten, 50,40 Euro) veröffentlichte. Darin heißt es: „Als unser Jeep die Straße entlangfuhr, säumten Skelette in gestreifter Kleidung den Weg. (…) Ich hielt den Jeep an. Die Kleidung schien von den Körpern zu rutschen, der Kopf wurde von einem Stock gehalten, der vielleicht einmal ein Hals gewesen war. Stäbe hingen an den Seiten, wo eigentlich Arme sein sollten, und auch die Beine sind Stäbe. ,Wie heißen Sie?‘ Und die Augen des Mannes trüben sich, er nimmt die Mütze ab, in Erwartung eines Schlages. ,Folek … Folek Sama.‘ – ,Nehmen Sie Ihre Mütze nicht ab. Sie sind jetzt frei.‘“
In erschütternden Worten hielt Kissinger seine Eindrücke des Lagers fest: „Ich sehe Hütten, nehme die ausdruckslosen Gesichter wahr, die toten Augen. (…) Ich sehe, wie mein Freund eine der Hütten betritt und mit Tränen in den Augen wieder herauskommt: ,Geh’ nicht da rein. Wir mussten sie treten, um die Lebenden von den Toten zu unterscheiden.‘“
Aus dem eigenen Erleben heraus erkannte er in Ahlem die epochale Monstrosität des Holocaust. „Folek Sama, du bist eine lebende Anklage an die Menschheit. Ich, Herr Jedermann, die menschliche Würde, alle haben dich im Stich gelassen. (...) Solange es in dieser Welt noch das Konzept des Gewissens gibt, wirst du es personifizieren. In diesem Sinne bist du ewig“, notierte er.
Im Jahr 1994 kam Kissinger noch einmal zurück nach Ahlem. Er besuchte die Gedenkstätte und das neu errichtete Mahnmal. „Man kann nicht Generationen dafür strafen, was deren Väter getan haben“, sagte er. Er vertraue auf die Demokratie im Deutschland der Nachkriegszeit, erklärte er optimistisch.
„Kissinger wirkte sehr bewegt und bedankte sich bei uns“, erinnert sich Karl-Heinz Siemer, der sich damals im Arbeitskreis für die Errichtung des Mahnmals engagiert hatte.
Ein Antrag der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Kissinger zum Ehrenbürger Hannovers zu ernennen, scheiterte damals jedoch – unter anderem am Widerstand von CDU und Grünen.