Ameiseninvasion in Deutschland schreitet voran
Sie zerfrisst Stromkabel, zerstört Spielplätze und legt das Internet lahm:
Die invasive Ameisenart Tapinoma magnum breitet sich in Deutschland aus. Die Kosten sind enorm, Wissenschaftler schlagen Alarm.

Große Mengen der als invasiv geltenden Ameisenart Tapinoma magnum breiten sich in Deutschland aus.Foto: Uli Deck/dpa

Die Überreste des Klettergerüsts ragen aus dem Boden, wie das Skelett eines ausgegrabenen Urzeittiers. Es ist ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Wo früher ein Spielplatz war, ist heute nur noch eine große Sandfläche. Zwei Bagger flankieren das Gerüstskelett, so, als wollten sie klarmachen, wer ihr nächstes Opfer ist.

Der Grund für die Tristesse auf dem Spielplatz in Kehl im Südwesten Deutschlands ist nur wenige Millimeter groß – und treibt Städte und Kommunen zur Verzweiflung: Tapinoma magnum, die Große Drüsenameise. Die invasive Art, eigentlich heimisch im Mittelmeerraum, fühlt sich mittlerweile auch in Deutschland ganz wohl – nicht zuletzt wegen des Klimawandels. Und es scheint, als müssten dort, wo sie sich eingenistet hat, früher oder später die Bagger anrücken und alles abreißen.

Den Kehlerinnen und Kehlern krabbelte Tapinoma magnum im vergangenen Jahr millionenfach in ihre Autos, Spülmaschinen und Kinderzimmer. Sie zerfraß Stromkabel und legte das Internet lahm. Auch der Spielplatz wurde dichtgemacht, weil sich Betonplatten hoben und Hohlräume bildeten – zu hoch wurde das Sicherheitsrisiko für die Kinder. Der Fall ging bundesweit durch die Presse. Die Berichte sind weniger geworden, aber die Ameisen nicht verschwunden. Die zerstörerische Kraft der Tapinoma magnum liegt in ihrer Fähigkeit, Superkolonien zu bilden: Statt sich wie andere Ameisenarten untereinander zu bekämpfen, schließen sich verschiedene Völker zusammen. So können sie Hunderte oder sogar Tausende Königinnen ausbilden – und sich rasant vermehren. Bis zu 20 Hektar kann eine solche Superkolonie einnehmen.

Das macht es auch so schwer, die Ameisen zu bekämpfen. Herkömmliche Insektizide helfen kaum. Nur der großflächige Einsatz von heißem Wasser scheint bisher Wirkung zu zeigen. Die Stadt Kehl legte sich dafür im vergangenen Jahr eigens ein entsprechendes Gerät zu und schaffte zwei Vollzeitstellen allein für die Bekämpfung der Tapinoma magnum – Kosten im sechsstelligen Bereich. Das hilft etwas. Nachhaltig vertreiben lässt sich das Insekt sich allerdings auch davon bisher nicht. Und die Große Drüsenameise ist schon längst nicht mehr nur ein Problem für Kehl – in ganz Baden-Württemberg breitet sie sich aus, und auch in Hamburg wurde bereits ein Fund gemeldet. In Hannover macht die Tapinoma ibericum, eine enge Verwandte der Tapinoma magnum, einem Supermarkt zu schaffen. Droht also eine deutschlandweite Ameisenplage?

Hundert Kilometer von Kehl entfernt beugt sich Amelie Höcherl über ihr „Bino“, wie sie es liebevoll nennt. Höcherl ist Entomologin am Naturkundemuseum Stuttgart. Seit Januar arbeitet sie bei einem neuen Forschungsprojekt mit, eine Kooperation zwischen dem Stuttgarter Museum und dem Naturkundemuseum Karlsruhe. Das gemeinsame Ziel: „Genomische und ökologische Analysen der Ausbreitung der invasiven Ameisenart Tapinoma magnum in Baden-Württemberg als Grundlage für ein effektives Management“.

Höcherl und ihre Kollegen wollen also herausfinden, wie sich die Tapinoma magnum verbreitet und was das für den zukünftigen Umgang mit ihr bedeutet, denn: „Die Ameise ist gekommen, um zu bleiben. Wir werden sie nicht mehr los. Das ist jetzt eher eine Frage des Managements“, sagt Höcherl. Soll heißen: Ja, es ist wahrscheinlich, dass die Große Drüsenameise bald auch in anderen Städten vor der Tür steht – wenn sie nicht schon längst da ist. Um das herauszufinden, sind die Forschenden auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. Wer einen Verdacht auf Tapinoma magnum hat, kann Fotos oder Proben von den Insekten einschicken. Citizen Science nennt sich dieser Forschungsansatz, also die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in den Wissenschaftsbetrieb. Das eingesandte Material wird von den Forschenden untersucht – bestätigen sie den Verdacht, ist die Tapinoma magnum auf der Deutschlandkarte wieder ein Stückchen weiter gekrabbelt.

„Es ist eigentlich ein Wunder, dass es massive Ausbrüche in Südwestdeutschland gibt, aber noch keine Meldungen aus Thüringen oder Sachsen“, sagt Bernhard Seifert, Ameisenexperte am Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz. Das läge aber nicht daran, dass es im Osten keine Großen Drüsenameisen gebe – viel wahrscheinlicher sei, dass sie noch nicht entdeckt wurden. Er habe das sächsische Landesamt für Umwelt auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht, doch bisher sei nichts passiert. „Die schlafen“, sagt Seifert.

Ein Vorwurf, der nicht nur aus der Wissenschaft kommt. „Am Anfang wurde das kleingeredet“, sagt auch Herbert Michalski. Sein Haus liegt direkt neben dem von Ameisen befallenen Spielplatz in Kehl. Er meint: „Vor Corona fing der ganze Mist hier an.“ Aber die Stadt habe nicht schnell genug reagiert. Jeden Morgen läuft Michalski jetzt „Streife“, wie er es nennt. „Damit mir die Mistviecher nicht zu nahe kommen.“ Seine Frau will dieses Jahr auf den Sommerurlaub verzichten, aus Angst, die Ameisen könnten ins Haus eindringen.

Zumindest in Baden-Württemberg ist die Politik mittlerweile aufgewacht – auch dank Bernd Mettenleiter. Der Grünen-Politiker fährt an diesem Montagnachmittag am Kehler Spielplatz mit seinem Elektroauto vor. Als Abgeordneter für den Wahlkreis Kehl im baden-württembergischen Landtag hat er das Tapinoma-Forschungsprojekt initiiert. Zunächst ist es auf zwei Jahre ausgelegt. 210.000 Euro hat Mettenleiter dafür aus dem Haushalt des Landes lockermachen können. Mit den Ameisen hat der frühere Biologielehrer keine Berührungsängste. Im Gegenteil: Mettenleiter kniet sich in den Sand, schnappt sich ein Insekt und zerquetscht es zwischen Daumen und Zeigefinger: „Riechen Sie mal. Riecht nach Nagellackentferner.“ Das ist dann wohl individueller Geschmack, aber auf jeden Fall ist der charakteristische Geruch ein Merkmal der Tapinoma magnum.

„Für die Kommunen ist die Ameisenplage natürlich eine finanzielle Herausforderung“, sagt Mettenleiter. Deshalb sei es wichtig, „zukunftsorientierte Lösungen“ zu finden. Das Forschungsprojekt soll dabei helfen. Die Idee ist, dass Betroffene und Kommunen sich vernetzen und Wissen austauschen, schließlich ist Kehl nicht die einzige Stadt, die Probleme mit Tapinoma magnum hat. Auch mit Partnern in Frankreich und in der Schweiz steht man in Kontakt. Dass die Ameise in ihren Ursprungsregionen keine Probleme verursacht, liegt daran, dass sie dort natürliche Feinde hat. In Deutschland scheint Tapinoma magnum hingegen nur wenig zu stören. Eingeschleppt wurde sie vermutlich durch Pflanzentransporte aus dem Mittelmeerraum. Erste Fälle wurden im Jahr 2009 in Rheinland-Pfalz registriert. Seitdem hat sich die Ameise immer weiter ausgebreitet. Weil ihre Nester bis zu einen Meter tief unter der Erde liegen, überlebt sie auch strenge Winter – selbst bei Temperaturen bis zu minus 15 Grad Celsius. Der Klimawandel dürfte die weitere Ausbreitung von Tapinoma magnum begünstigen.

„Unsere Hypothese ist, dass der Klimawandel eine Rolle spielt“, bestätigt Insektenforscherin Höcherl. Das zu untersuchen ist ein Ziel des neuen Forschungsprojekts. Dafür gleichen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Verbreitung der Tapinoma magnum mit Klimadaten ab. So wollen sie auch Prognosen für die Zukunft treffen können. Gestiegene Temperaturen und weniger Frost in Nordeuropa führen dazu, dass invasive Arten aus wärmeren Regionen auch weiter nördlich langfristig überleben können. Deshalb könnte das Tapinoma-Forschungsprojekt wichtige Erkenntnisse für den Umgang mit anderen nicht heimischen Arten liefern, hofft Höcherl.

Die Wissenschaftlerin redet viel im Konjunktiv, spricht von „Hypothesen“ und noch offenen „Forschungsfragen“, konkretisiert ihre eigenen Aussagen immer wieder, damit ja kein falsches Bild entsteht. Vieles sei noch nicht geklärt, einiges wird man vermutlich nie klären können. So funktioniert Wissenschaft eben. Einige Menschen können oder wollen das nicht verstehen, so scheint es. Zu langsam, zu unkonkret, zu widersprüchlich – Vorwürfe, mit denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder konfrontiert sehen. Und dann ist da ja noch der berühmte Elfenbeinturm.

Deshalb ist Höcherl überzeugt von Modell der Citizen Science: „Der Vorteil ist, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in der Wissenschaft beteiligen können.“ Außerdem hätten die Forschenden ohne die Citizen Scientists deutlich weniger Ameisenproben. „Viele Augen sehen mehr“, sagt Höcherl. Auch Grünen-Politiker Mettenleiter ist begeistert von Citizen Science. Kurz blitzt der Lehrer in ihm durch: „Dahinter steckt auch der heimliche Plan, Menschen zu zeigen, dass Wissenschaft nicht abgehoben ist und aus dem Elfenbeinturm arbeitet, sondern konkrete Lösungen schafft.“

Dieser Lehrplan scheint noch nicht bei allen angekommen zu sein. Klingeln bei den Osthofs. Das Haus liegt gegenüber der Michalskis, die dieses Jahr wegen der Ameisen nicht in den Urlaub fahren. Ein älterer Herr mit Jogginghose und Pantoffeln öffnet die Tür. Ob er schon von dem neuen Forschungsprojekt gehört habe? „Nein.“ Und: „Das macht ja für den Moment keinen Unterschied. Daraus entsteht dann irgendwann eine Dissertation, aber man braucht jetzt Lösungen und nicht irgendwann in der Zukunft.“

Er selbst wolle sich als Nächstes ein bestimmtes Gel gegen die Ameisen kaufen, davon habe er im Internet gelesen. Die Nachbarin schwört hingegen auf Backpulver. An die Heißwasserbekämpfung der Stadt glaubt sie nicht so recht: „Da lachen sich die Ameisen kaputt. Die sollen mal was Ordentliches machen.“ Auf ihr Grundstück lässt sie die Mitarbeitenden des städtischen Betriebshofs trotzdem. Schaden kann es ja nicht. Zumindest nicht mehr als die Ameisen.



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