Deutsche Züge müssen draußen bleiben
Europaweit ist die Schweiz Vorreiter, was Dichte, Qualität und Nutzung des Schienennetzes angeht – was Deutschland daraus lernen kann

In der Schweiz kommen 98,6 Prozent der Fernzüge pünktlich an ihr Ziel.Foto: Xavier von Erlach / Unsplash

Mächtige Berge, enge Täler und zahlreiche Tunnel, im Winter dazu oft noch Eis und Schnee: Die Schweiz stellt die Eisenbahn durchaus vor Herausforderungen. Trotzdem läuft dort sehr vieles sehr viel besser als beim nördlichen Nachbarn jenseits der Alpen. 98,6 Prozent der Fernzüge kommen pünktlich an ihr Ziel – also mit weniger als drei Minuten Verspätung. In Deutschland hingegen waren 2024 nur 62,5 Prozent offiziell pünktlich. Und der Vergleich hinkt sogar noch, denn ein Zug gilt hierzulande erst als verspätet, wenn er sechs Minuten nach der geplanten Ankunftszeit einfährt.

Die chronische Unpünktlichkeit der deutschen Nachbarn macht auch der Schweiz zu schaffen: Seit Ende April ist für zwei ICE aus Hamburg (EC7) und Dortmund (EC9) an der Grenze in Basel deshalb Endhaltestelle. Sie dürfen – zunächst bis zum nächsten Fahrplanwechsel im Dezember – nicht mehr nach Interlaken oder Zürich durchfahren. Der Grund: Mit Verspätungen von 20 Minuten und mehr zerschießen sie den Schweizer Bundesbahnen (SBB) immer wieder den sorgfältig und eng getakteten Fahrplan. Die Reisenden aus Deutschland müssen in Basel deshalb in einen SBB-Zug umsteigen.

„Wenn Züge mit einer solchen Verspätung ankommen, bekommen wir sie nicht in den Netzfahrplan hinein. Aber alle Kundinnen und Kunden in Basel haben das Recht darauf, dass er funktioniert”, sagt Christa Hostettler. Die gelernte Juristin ist seit August 2024 Direktorin des Schweizer Bundesamts für Verkehr (BAV), der Aufsichtsbehörde der SBB. Hostettlers Aufgabe ist es damit, den öffentlichen Verkehr und Güterverkehr der Eidgenossen weiterzuentwickeln und optimal zu vernetzen.

An die Einführung des Taktfahrplans in der Schweiz 1982 kann sie sich noch gut erinnern. „Es war ein riesiger Schritt, denn man brauchte kein Kursbuch mehr. Schon als Kind kannte ich alle Verbindungen auswendig“, sagt sie.

Dass die enge Taktung bis heute zuverlässig wie ein schweizer Uhrwerk funktioniert, liegt auch daran, dass auf längeren Strecken Umsteigen die Regel ist. Die Schweizerinnen und Schweizer sind an Zugwechsel gewöhnt – und sie wissen, dass es überall schnell Anschlüsse gibt.

Ein Bahnexperte, der sich seit Jahren mit dem Deutschlandtakt befasst, seufzt beim Gedanken daran. „Das, was die Schweiz schon in den 80er-Jahren begann, entdeckte Deutschland 2016”, sagt er. Auch hierzulande lautet seitdem die Grundidee: Vom Ziel her denken und das Infrastrukturnetz so bauen und ausstatten, dass zwischen größeren und kleineren Knotenpunkten verlässliche Verbindungen zur vollen oder halben Stunde möglich sind.

Kürzere Teilstrecken, mehr Umstiege, insgesamt aber weniger Verspätungen und eine pünktliche Ankunft sind das Ziel. Doch die Umsetzung zieht sich, viele fürchten gar bis 2070. Derzeit ist es jedenfalls weiterhin so, dass Züge quer durch Deutschland sehr lange Strecken fahren. Dabei schieben sie Verspätungen schlimmstenfalls über Stunden vor sich her, blockieren Bahnsteige und bremsen andere Züge aus. „Verspätete Züge sind nicht zu retten. Man muss sie aus dem Fahrplan nehmen“, sagt der Experte. Punkt.

Doch damit der Deutschlandtakt funktionieren kann, gibt es eine zwingende Voraussetzung. „Er muss auf ein perfekt funktionierendes Netz aufsetzen“, betont der Fachmann. Davon sei das jahrelang unterfinanzierte Schienennetz samt der vielerorts veralteten Stellwerke jedoch meilenweit entfernt. „Man zahlt mit den Generalsanierungen nun für 30 Jahre Nichtstun.“

Der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD) fordert, den Deutschlandtakt trotzdem etappenweise einzuführen. „Damit das effektiv funktioniert, müssen wir die Kapazitäten auf den Schienen – vor allem an den Knoten – mit kleineren und mittleren Maßnahmen wie dem Aus- und Neubau von Strecken erweitern“, schlägt VCD-Sprecher Alexander Kaas-Elias vor.

In der Schweiz ist man bei der Infrastruktur währenddessen am Ball geblieben. „Es werden jährlich rund 3 Milliarden in den Substanzerhalt investiert und 1 bis 1,5 Milliarden in den Ausbau, letzteres aufgrund baureifer Projekte steigend“, berichtet BAV-Chefin Hostettler. In den vergangenen Jahren lag das Verhältnis stets etwa bei 3:1.

Etwa 450 Euro pro Kopf werden in der Schweiz in die Schienen investiert, fast viermal so viel wie in Deutschland mit 114 Euro. „Das zahlt sich aus: In der Schweiz fährt man pro Kopf 2464 Kilometer im Jahr Bahn, in Deutschland nur 1206“, sagt Kaas-Elias.

Dennoch ist auch in der Schweiz, wo das Schienennetz nur ein Siebtel der fast 33 500 Schienen-Kilometer Deutschlands umfasst, nicht alles rosig wie Alpenglühen: Die SBB sind hoch verschuldet, hauptsächlich wegen der Gewinneinbrüche während der Corona-Phase und verteuerter Baukosten. Trotz eines Jahresgewinns von 275 Millionen Schweizer Franken lag der Schuldenstand Ende 2024 bei gut 12 Milliarden.

Auch die Schweiz kann nicht alle geplanten Bahn-Projekte verwirklichen, sie muss priorisieren. Und trotz des in vieler Hinsicht europaweiten Vorzeigecharakters ist auch die Digitalisierung der Strecken, etwa mit dem europäischen Zugsicherungssystem ETCS, längst noch nicht flächendeckend installiert.

Schnellere Digitalisierungs-Fortschritte macht man in Richtung Kundschaft. „Eine Reise, ein Ticket ist das Motto – egal ob man Bahn, Bus, Schiff oder Bergbahn nutzt“, sagt Hostettler. Beim sogenannten Swiss Pass müssen alle Schweizer Transportunternehmen mitmachen. „Auch wenn die nordischen und baltischen Länder bei der Digitalisierung des Ticketverkaufs schon viel weiter sind: Wir wollen ebenfalls in diese Richtung gehen, auch, um die Betriebskosten zu senken und mehr Geld in gute Angebote stecken zu können.“

Schon heute werden 75 Prozent der Tickets in der Schweiz online verkauft. Die App der SBB nutzen über vier Millionen Menschen, das heißt jede und jeder Zweite in der Schweiz. Der nächste Schritt, so beschloss die schweizerische Regierung gerade, soll nun der Aufbau einer einheitlichen Infrastruktur sein, um die Mobilitätsdaten einfacher auszutauschen. Sie soll nicht auf den Bahnverkehr beschränkt sein, sondern schrittweise Privatverkehr, Parkhäuser, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, aber auch Fuß- und Fahrradverkehr besser vernetzen. Eine universale Mobilitäts-App sozusagen.

Ein Fehler ploppte jüngst allerdings selbst bei den Schweizern im System auf. „Ihr Zug wird circa 65.766.691 Minuten später abfahren“, warnte eine automatisch generierte Durchsage. Versehentlich war das Jahr 1900 hinterlegt worden.



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