„Gerecht werden wir dieser Menschheitsaufgabe nicht“
Selbstkritische Altkanzlerin Merkel sieht viele Versäumnisse beim Klimaschutz

Bibelarbeit mit Angela Merkel: Die Altkanzlerin äußert sich selbstkritisch im Gespräch mit Anja Siegesmund, Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.Foto: Jonas Dengler
Hannover. Der Andrang beim Auftritt von Angela Merkel (CDU) auf dem Kirchentag in Hannover ist riesig: Schon eine halbe Stunde, bevor die sogenannte Bibelarbeit beginnen soll, sind die typischen Papphocker vor der Bühne restlos belegt. Als die Altkanzlerin dann erscheint, wird sie vom Kirchentagspublikum sehr wohlwollend empfangen – und erntet auch während ihres Vortrags immer wieder reichlich Applaus. Vor allem, als sie ihren Migrationskurs während der großen Flüchtlingsbewegung des Jahres 2015 verteidigt.

Sie stehe weiterhin zu ihrem Satz „Wir schaffen das“, betont die Pfarrerstochter Merkel. Und sie ergänzt: Der Satz sei ihr schon oft um die Ohren gehauen worden. Beim großen Protestantentreffen hat sie mit dieser Haltung bis zum heutigen Tag jedoch gewissermaßen ein Heimspiel. Zumal die frühere Regierungschefin deutlich macht, dass die Hilfe für die Flüchtlinge vor zehn Jahren von der breiten Zivilgesellschaft getragen wurde: Sie habe darauf vertrauen können, „dass es viele Menschen in Deutschland gibt, die in einer solchen Notsituation helfen“, sagte Merkel. „Und die gab es, und darauf können wir stolz sein. Lassen wir uns das nicht nehmen.“

Merkels Äußerungen bekommen in diesen Tagen ein besonderes Gewicht, da ihr designierter Nachfolger im Kanzleramt, Friedrich Merz (CDU), bereits in der kommenden Woche deutliche Verschärfungen auf den Weg bringen will, mit denen die Migration nach Deutschland deutlich begrenzt werden soll. Die Altkanzlerin selbst spricht davon, dass auch sie gewusst habe, dass man nicht jeden Tag 10.000 neue Menschen aufnehmen könne. „Aber die, die bei uns vor der Tür standen sozusagen, an der Grenze, die haben wir eben nicht abgewiesen, sondern aufgenommen“, hält sie fest.

Zugleich räumt die Kanzlerin Versäumnisse der Politik ein. Unter anderem müsse man noch besser darin werden, diejenigen, die kein Bleiberecht hätten, dazu zu bringen, das Land auch wieder zu verlassen. Noch deutlicher wird Merkels selbstkritischer Blick an diesem Donnerstagmorgen, als sie größere Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel fordert. „Gerecht werden wir dieser Menschheitsaufgabe bis heute nicht“, befindet sie und verbindet das mit einem Appell: Jeder Einzelne könne und müsse noch mehr tun.

In diesem Zusammenhang würdigt Merkel den Einsatz von Klimaaktivistinnen und Aktivisten – die ähnlich wie einst Jesus sehr klar in ihren Forderungen sein könnten und dabei keine Abstriche machen müssten. So sei es etwa eine „clevere Idee“ gewesen, 2021 vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen und die Politik über den juristischen Weg zu Nachbesserungen zu zwingen. „Als Politiker können sie nur etwas durchsetzen, wenn sie Mehrheiten finden und Kompromisse eingehen“, beschreibt Merkel. Das sei mühsam, und oft komme man nur schrittweise voran.

Mitunter gebe es auch Rückschläge – etwa den Ausstieg der USA aus dem Klimaschutzabkommen. Entmutigen lassen dürfe man sich davon jedoch nicht, sondern müsse konsequent für seine Sache einstehen, betonte die CDU-Politikerin. „Ich habe immer versucht, selbst in ausweglosen Situationen nicht klein beizugeben, sondern nach Auswegen zu suchen.“ Merkel führt als Beispiele unter anderem die erste UN-Klimakonferenz COP 1 in Berlin an, die sie als junge Bundesumweltministerin 1995 leitete. Mit viel Geschick sei es ihr dabei gelungen, einen Kompromiss zwischen den 170 Industrie- und Entwicklungsländern zu erzielen: Indem sie die Gruppen voneinander getrennt habe, hätten diese nicht mehr „aufeinander herumhacken“ können und sich endlich mit der Sache beschäftigen. Auf Idee dazu hätte sie ihr indischer Amtskollege gebracht.

Ganz ähnlich habe sie dann auch in späteren Jahren agiert, rechtfertigt Merkel ihren viel kritisierten Führungsstil. „Ich habe immer lange nachgedacht und auch andere gefragt.“ Das habe manchmal etwas gedauert, sei aber nötig gewesen, um zu einer guten Entscheidung zu kommen – und zu einer, die dann auch Bestand hatte.

Nur einmal sei ihr das nicht gelungen: Als sie vor vier Jahren in der Corona-Krise eine sogenannte Osterruhe verfügt hatte. Die habe sich jedoch rasch als absolut unpraktikabel herausgestellt und sei dann zurückgenommen worden. „Das sollte einem nur nicht jeden Tag passieren“, sagt Merkel.

Brisant wird es zum Abschluss auch noch einmal in der Fragerunde, als eine Besucherin die Altkanzlerin fragt, wie Christen auf das Erstarken der Rechtspopulisten reagieren sollten. „Sprachlosigkeit passt nicht zum Christentum“, findet Merkel und ruft damit zu einem Dialog mit den Wählerinnen und Wählern von Rechtsaußenparteien auf. Sie spricht von einem „Weg der Verführung“, von dem man viele auch wieder abbringen könne.
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