Karsten Krüger ist Leiter des Bereichs Leistungsphysiologie und Sporttherapie am Institut für Sportwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. „Der Begriff Open-Window-Effekt geht auf David Nieman zurück, einen Pionier der Sportimmunologie“, erklärt er. Nieman habe bereits in den Achtzigerjahren Marathonläufer nach einem Wettkampf zu ihrer Gesundheit befragt und dabei beobachtet, dass diese öfter an Infektionen der oberen Atemwege erkrankten.
„Heute weiß man, dass Sporteinheiten von langer Dauer und Intensität den Körper auch überfordern können und die Immunzellen dann nicht mehr so gut funktionieren“, sagt der Professor. Der Effekt sei nicht nur nach einem Marathon, sondern auch schon nach einem einstündigen intensiven Ausdauertraining zu erwarten – wobei es immer auch auf den persönlichen Trainingszustand ankomme. Für eine funktionierende Immunabwehr müsse der Organismus gut mit Kohlenhydraten versorgt sein. „Wenn man richtig heftig trainiert, können sich unsere Speicher aber leeren“, so der Professor. „Dann konkurrieren die Immunzellen mit den anderen Zellen des Körpers um die Energieversorgung und können ihre Aufgaben nicht mehr so gut erfüllen.“
Bei Krafttraining hingegen ist der Open-Window-Effekt eher nicht zu erwarten. „Da konnten wir bisher keine negativen Effekte auf das Immunsystem beobachten“, sagt Krüger. Wahrscheinlich liege das daran, dass sich Krafttraining nicht so stark auf den Stoffwechsel auswirkt. Jede Art von Sport bedeute für den Körper zunächst physiologischen Stress, egal ob Ausdauer- oder Krafttraining. „Bei Anstrengung werden zunächst Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet“, erklärt Krüger.
Das ist aber eigentlich etwas Positives für die Funktion des Immunsystems: Die Hormone aktivieren den Organismus und helfen uns, mehr zu leisten. „Auch bei einem Marathonlauf stehen wir zunächst unter dem Einfluss von Adrenalin“, sagt Krüger. „Erst wenn nach längerer Belastung die Kohlenhydratreserven aufgebraucht sind und es zum Energiemangel kommt, wird vermehrt das Hormon Cortisol ausgeschüttet. Und dieses wirkt sich negativ auf das Immunsystem aus, was zum Open-Window-Effekt beiträgt.“
Jeder Sportler und jede Sportlerin kann aber etwas dafür tun, um nach fordernden Sporteinheiten gesund zu bleiben. „Ich würde immer empfehlen, auf eine ausreichende Versorgung mit Glukose zu achten und deshalb zum Beispiel nicht morgens auf nüchternen Magen laufen zu gehen. Und wenn man eine Stunde lang Sport gemacht hat, sollte man die Kohlenhydratspeicher auffüllen“, empfiehlt Karsten Krüger. Dem Open-Window-Effekt könne man so entgegenwirken.
„Nach anstrengenden Einheiten sollte man sich außerdem gut regenerieren und vor allem jetzt im Winter warm anziehen. Außerdem ist es sinnvoll, sich direkt nach dem Sport vor Infektquellen zu schützen – und zum Beispiel keine Trinkflaschen in der Umkleidekabine herumzureichen.“ Die gute Nachricht: Nach einer Ausdauersporteinheit schließt sich das Zeitfenster, in dem wir anfälliger für Infekte sind, meist schon nach wenigen Stunden wieder. Nur nach einer Extrembelastung wie einem Marathon kann die Abwehr sogar einige Tage lang geschwächt sein. Insgesamt überwiegen trotzdem die positiven Effekte von Sport auf das Immunsystem. So hat eine Auswertung des unabhängigen Cochrane-Instituts ergeben, dass Sportler zwar nicht unbedingt seltener, aber weniger schwer an Atemwegsinfektionen erkranken und die Symptome bei ihnen kürzer anhalten. „Es lässt sich relativ gut zeigen, dass aktive Menschen kürzer krank sind, wenn sie krank werden“, sagt Krüger. Vor allem ältere Menschen, deren Immunsystem schwächer wird, können daher stark von Sport profitieren. Es gebe viele Untersuchungen zu den Auswirkungen von Sport und Bewegung in der zweiten Lebenshälfte. „Daher wissen wir, dass ältere Menschen, die sich regelmäßig bewegen, eine andere Zusammensetzung an Immunzellen haben“, sagt Krüger. Sie hätten einen erhöhten Anteil an naiven T-Zellen: Abwehrzellen, die aktiv werden können, wenn es zur Infektion mit bisher unbekannten Erregern kommt, und sich an diese anpassen. Bei passiveren Senioren und Seniorinnen sei hingegen der Anteil älterer T-Zellen höher, die schlechter auf neue Herausforderungen reagieren.
Insgesamt seien die Vorteile von Sport und Bewegung so groß, dass sie die Nachteile des Open-Window-Effekts bei Überanstrengung deutlich überwiegen, betont Krüger: „Die wenigsten Menschen müssen Angst davor haben, ihr Immunsystem beim Sport zu überanstrengen. Die meisten müssten sich im Gegenteil eher mehr bewegen, um ihre Abwehrkräfte zu stärken.“