„Ich bin für einen Kollegen eingesprungen, der Bammel bekommen hatte, ob er das im Dunkeln wirklich hinbekommt“, erinnert sich der Extremsportler an seinen Auftritt in der Innenstadt. Das hieß konkret: Anlässlich des Anknipsens der Weihnachtsbeleuchtung sollte er vom Dach des Gisy-Hauses rüber aufs Kröpcke-Center balancieren. Das Ganze war als Showact von der City-Gemeinschaft und des GOP-Varieté-Theaters lange geplant worden. Irmler ist das Wagnis eingegangen.
„Es war eine der größten Publikumsshows, die ich jemals hatte. Und ich bin erst eine Woche vorher eingesprungen“, erzählt der 36-Jährige. Er verstand schnell, warum sein Kollege gehadert hat: Scheinwerfer begleiteten den waghalsigen Balanceakt, „mit den Strahlern im Gesicht läuft man fast wie blind“. Irmler hat es aber geschafft: 96 Meter ist er über die Slackline gelaufen, in 20 Metern Höhe über den Köpfen der Leute. Gut 20.000 Zuschauerinnen und Zuschauer hat das Spektakel in die City gelockt. 2012 wurde das zudem ein Weltrekord, nie hatte jemand vor ihm in einer Stadt eine längere Strecke auf einer Slackline zurückgelegt.
Beim Gedanken daran muss Irmler lachen: „Wahnsinn, wie viel sich seitdem sportlich verändert hat. Heute reden wir über Strecken, die 20-mal länger sind. Damals unvorstellbar.“ Zum Vergleich: Aktuell hat ihn Jaan Roose (32) inne, der gerade 1074 Meter über den Bosporus gelaufen ist. Für normal Sterbliche ist es eher unvorstellbar, was der Freisinger in all den Jahren geschafft hat: In Afrika überquerte er als Erster die 100 Meter tiefe Schlucht des breitesten Wasserfalls der Welt, der Victoria Falls in Simbabwe, er balancierte zwei Kilometer zwischen Berggipfeln, außerdem in 500 Metern Tiefe, in der Gouffre-Berger-Höhle in Frankreich. Das sind nur einige Highlights. Irmler ist mehrfacher Guinness-Weltrekordhalter, aktuell sind es fünf. Alle errungen auf einem zweieinhalb Zentimeter schmalen Band.
Auch die gesellschaftliche Wahrnehmung ist zwölf Jahre nach seinem Hannoverrekord eine ganz andere: „Früher musste man erklären, wie man Slackline schreibt. Heute haben Kinder eine im Garten.“ Was gleichgeblieben ist, sei der Umgang mit Angst und mit Selbstzweifeln. Selbst bei Lukas Irmler. Fragen wie „Kann ich das?“, „Schaffe ich das?“ treiben auch ihn um. Darüber hat der Slackliner nun ein Buch geschrieben: „Face your fear“ (Penguin. 240 Seiten, 20 Euro). „Ängste sind dann relevant, wenn sie einem im Wege stehen“, sagt der Autor – und spricht sich damit selbst aus dem Herzen.
Bei ihm war es Höhenangst, die fast dafür gesorgt hätte, dass er sich seine gigantischen Slackline-Träume nicht erfüllen kann. „Eigentlich hat jeder Mensch Höhenangst, was auch gut ist. Sonst würden alle vom Balkon springen.“ Es gehe darum, sich keine Möglichkeiten zu nehmen, weil einen die Angst behindere. Er ist drangeblieben, hat sich fokussiert und irgendwann einfach nur an den nächsten Schritt gedacht. Am Ende siegte die Motivation, sie war sein Antrieb und sein Motor. „Für viele ist es ein verrückter Gedanke, dass Angst überwunden werden kann.“
Hinzu kommt, dass der Gang auf der Slackline bei ihm dafür sorgt, im Hier und Jetzt anzukommen. „Das empfinde ich als sehr angenehm.“ Sein Sport mag für manche wie eine adrenalingetriebene Sache aussehen, „aber für mich ist es bewegte Meditation“. Der Sport fordert ihn mental und psychologisch, Fehler darf er sich dabei nicht erlauben: „Dann wäre ich tot. Ich versuche eher einen gesunden Umgang mit dem Risiko zu finden.“
Heute berichtet er in Keynotes und Multimedia-Vorträgen von seinen Reisen, veranschaulicht seine Leidenschaft zur Höhe, erklärt seine Suche nach Balance. Dann hören ihm Menschen aus gehobenem Management gleichermaßen gebannt zu wie diejenigen, die gerade in der Ausbildung stecken. „Irgendwie wollen wir alle Außergewöhnliches erreichen, aber die Bereitschaft, Risiken einzugehen, wird immer kleiner“, hat Irmler da festgestellt. Trifft das auf ihn zu? „Na ja, es ist sicher nicht erstrebenswert, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber ich wünsche mir schon, mich herauszufordern und zu steigern.“
Dass seine Sportart so groß geworden ist, pusht ihn. „Das Schlimmste wäre ein Rekord, der nicht gebrochen wird.“ Da gäbe es tatsächlich etwas. Irmler will als erster Menschen auf allen Kontinenten auf einer Slackline balanciert sein, „es fehlt nur noch die Antarktis“. Um die Reise umzusetzen, braucht es allerdings nicht nur eine fünfstellige Summe pro Person im Team, sondern auch Mut und Motivation. „So ein Trip ist kein Kindergeburtstag.“ Irgendwann will er von diesem Traum nicht mehr nur in Interviews schwärmen.