„Dort drüben, wo heute der Parkplatz ist, führte früher die Sommerbrücke über den östlichen Leinearm“, sagt Oliver Sprigade. Der 55-jährige steht nahe dem Beginenturm am Hohen Ufer, und sein Display zeigt, wie es hier vor rund 100 Jahren aussah, ehe die Zerstörungen des Krieges das Gesicht der Altstadt für immer veränderten.
Der hannoversche Grafiker und Illustrator hat die Stadtansicht des Jahres 1925 in zwei virtuellen, farbigen 360-Grad-Panoramen detailgetreu rekonstruiert. In jahrelanger, akribischer Kleinarbeit hat er bei dem privaten Projekt Hunderte von Fotos aus dem Historischen Museum und Dokumente aus dem Stadtarchiv gesichtet und am Rechner zu einem Gesamtbild neu zusammengefügt.
An zwei Zeitzylindern, installiert an Laternenpfählen zwischen Historischem Museum und Leine, können alle Interessierten nun kostenfrei QR-Codes scannen und virtuell zurück in die Vergangenheit reisen. Das Smartphone wird dabei zur Zeitmaschine. „Die alte Stadtansicht ist durch den Krieg verloren gegangen“, sagt Sprigade, „ich möchte sie wieder präsent machen.“
Sein Projekt H-Story bietet die Rundumansichten auf der Website www.h-story.de weltweit abrufbar an, doch ihren ganzen Charme entfalten sie erst hier, am Hohen Ufer: Man wischt über den Bildschirm, dreht sich selbst dabei im Kreis – und gleicht Meter für Meter die Wirklichkeit von 1925 mit der Wirklichkeit von heute ab. Der Wahrheit die Ehre: Oft bleibt dabei die Wirklichkeit von 1925 Sieger.
Auf dem Display erscheint der alte Leinearm, der nach dem Krieg zugeschüttet wurde. Die pittoresk anmutende Leineinsel Klein-Venedig, von der nichts geblieben ist. In der Calenberger Neustadt ist die Kuppel der 1938 niedergebrannten Synagoge zu erkennen. Am Rande der Leine steht das niedliche Scherenschleiferhäuschen, das nach dem Krieg nie wieder aufgebaut wurde. Und die Fassade des Zeughauses, in dem heute das Historische Museum ist, wurde 1925 noch von einem schmucken Fachwerkaufsatz gekrönt.
Es sind unendlich viele Details, die Oliver Sprigade in sein virtuelles Mosaik eingefügt hat: „In vielen Bereichen ist die Rekonstruktion bis auf den Ziegelstein genau“, sagt er selbst. Daneben lassen sich in der Navigation zusätzlich erläuternde Texte und historische Fotos abrufen. Man erfährt, dass südlich des Beginenturms damals das 1736 errichtete Altstadtlazarett lag. Es gibt auch Auszüge aus Essays von Autoren wie Erich Maria Remarque und Theodor Lessing über Hannover. Und sogar das Glockengeläut der Neustädter Kirche erklingt in der Rekonstruktion. Kommerzielle Interessen verfolge er mit seinem werbefreien Projekt nicht, betont Sprigade: „Ich möchte einfach auch Menschen ohne historische Vorkenntnisse für Hannovers Geschichte interessieren.“
„H-Story ist ein tolles Angebot, das ganz neue Zugänge zur Stadtgeschichte eröffnet“, sagt Jan-Willem Huntebrinker vom Historischen Museum, das derzeit wegen Renovierung geschlossen ist. „Im direkten Vergleich zu den heutigen Perspektiven wird die dramatische Stadtentwicklung der letzten 100 Jahre eindrucksvoll deutlich.“
Tatsächlich hat sich Hannover sehr verändert. Unwillkürlich sucht das Auge beim Blick auf das Display immer wieder vertraute Ankerpunkte wie den Beginenturm. Die Panoramen bieten so nicht nur Einblicke in eine sehr malerische Stadt – sondern teils auch in eine ziemlich fremde.