„Soziale Gerechtigkeit war mir schon immer wichtig“, sagt Gertraude Kruse. Daher ist sie 1966 in die SPD eingetreten. „Ich wollte etwas bewegen und mich für die Förderung von Schwächeren einsetzen.“ Für ihren Einsatz über mehrere Jahrzehnte wird die 85-Jährige nun zur Ehrenbürgerin der Stadt Pattensen ernannt. Den Vorschlag hatte die SPD unterbreitet, der Stadtrat stimmte zu.
Kruse ist 1939, während des Zweiten Weltkriegs, in Hannover geboren, erlebte 1943 im Alter von vier Jahren das schwere Bombardement der Alliierten mit. „Ich kann mich noch erinnern, wie wir oft in den Bunker gelaufen sind.“ Nach dem Krieg war ihr die Verständigung und Freundschaft zu Gleichaltrigen in anderen Ländern umso wichtiger.
In den Fünfzigerjahren engagierte sie sich daher bei den Internationalen Jugend-Gemeinschafts-Diensten. „Ich habe viel mit Jugendlichen aus aller Welt diskutiert und bin dadurch politisch geworden“, sagt Kruse heute. Der Verein wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Schülern aus Hannover gegründet und richtete in der Nachkriegszeit Workcamps für Jugendliche aus ganz Europa aus, um den Wiederaufbau zu fördern und Feindbilder abzubauen.Die überzeugte Sozialdemokratin wuchs an der Pfarrstraße in Hannover-Ricklingen auf. Später machte sie in der Fabrik der Gebrüder Meyer, die heute noch an der Göttinger Chaussee in Ricklingen als Baudenkmal steht und in der damals unter anderem Schuhcreme und Bohnerwachs hergestellt wurden, eine Ausbildung zur chemisch-technischen Industriekauffrau. 1967, nach ihrer Heirat mit Gerhard Kruse, zog sie nach Pattensen.
Bereits ein Jahr später wurde sie für die SPD in den Rat der Stadt gewählt. „Es hat mich gestört, dass so wenig Frauen in der Politik vertreten waren“, sagt die 85-Jährige. „Das wollte ich ändern.“ Als sie ein Jahr später zum zweiten Mal Mutter wurde, gab sie das Amt zunächst wieder ab, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Erst 1986, als ihre zwei Töchter fast erwachsen waren, kandidierte sie erneut in Pattensen und wurde von 1986 bis 1991 wieder für die SPD in den Stadtrat gewählt.Schon fünf Jahre zuvor, 1981, war sie in den Kreistag gewählt worden. Dort hatte sie bis 1998, insgesamt 17 Jahre lang, ein Mandat. Von 1990 bis 1998 wurde sie zusätzlich in den niedersächsischen Landtag gewählt, wo sie als stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende eng mit dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder zusammenarbeitete. „Zu ihm habe ich auch heute noch hin und wieder Kontakt“, sagt die dreifache Großmutter.
Über den Landtag lernte Kruse unter anderem auch die Mutter von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kennen. Ursula Pistorius hatte dort für die SPD von 1978 bis 1990 ein Mandat. Um sich für die Gleichberechtigung einzusetzen, gab Kruse an der Heimvolkshochschule Springe Seminare für Frauen mit Kinderbetreuung. „Frauen sollten nicht den Mund halten, sondern ihre Fähigkeiten nutzen“, findet die Pattenserin.
1996 wurde sie vom Kreistag zur Landrätin des Landkreises Hannover gewählt und übte dieses Amt aus, bis sie Ende 1998 zur Regierungspräsidentin des Regierungsbezirks Hannover ernannt wurde. Sie war bis 2003 die letzte Inhaberin dieses Amtes, denn im Jahr 2004 wurden die Bezirksregierungen in Niedersachsen abgeschafft.
„Ich bin meinem Mann sehr dankbar, denn er hat mich bei allem immer unterstützt“, sagt Kruse. Gerhard Kruse ist seit Mitte der Sechzigerjahre ebenfalls SPD-Mitglied und führte seit 1972 rund 30 Jahre lang Pattensens Sozialdemokraten, zunächst als Ortsvereinsvorsitzender, dann zwei Jahre lang als Bürgermeister und schließlich als Vorsitzender des Stadtverbandes.
Die aktuelle bundespolitische Lage macht Gertraude Kruse allerdings zunehmend Sorgen. „Wir haben gute Leute in der SPD, und Scholz regiert nicht schlecht“, findet sie. Die Uneinigkeit in der Ampel sei aber schlimm gewesen. Große Stücke hält die Sozialdemokratin, die 2023 mit der Willy-Brandt-Medaille die höchste Auszeichnung der Partei erhielt, auf den neuen Generalsekretär der SPD, den Laatzener Matthias Miersch, sowie auf die SPD-Landtagsabgeordnete Silke Lesemann und Pattensens Bürgermeisterin Ramona Schumann (SPD).
Neben ihren politischen Ämtern engagierte sich Kruse in Pattensen auch in etlichen Ehrenämtern. Ein Amt, das ihr besonders wichtig war, war ihre Tätigkeit als AWO-Vorsitzende von 1971 bis 1985. „Hier besonders, dass es gelungen ist, die erste Altenbegegnungsstätte in Pattensen in der ehemaligen Dienstwohnung des Stadtdirektors im Mühlenfeld einzurichten“, blickt sie zurück. Später bot sie dort Gymnastik für Senioren an.
Von 2005 bis 2008 machte sie sich mit Heidi Friedrichs und Pastorin Carola Timpe für die Verlegung von 13 Stolpersteinen stark. Die Gedenktafeln des Künstlers Gunter Demnig, die seit 1992 in Deutschland und 31 weiteren europäischen Ländern vor den ehemaligen Wohnhäusern der NS-Opfer verlegt werden, sollen an das Schicksal der Menschen erinnern, die von den Nazis ermordet wurden.Aber auch Natur- und Umweltschutz spielt für Kruse eine große Rolle. Daher engagiert sie sich seit 2007 in der BUND-Arbeitsgruppe Pattensen. Von 2012 bis 2018 war sie außerdem Vorsitzende der Ökologischen Station Mittleres Leinetal in Laatzen, die sie mitgründet hat und deren Ehrenvorsitzende sie heute ist. Um wirtschaftlich schwache Menschen in ihrer Heimatstadt zu unterstützen, engagiert sich Kruse seit 2009 auch bei der Tafel in Pattensen. „Ohne Ehrenamtliche würden in den Kommunen viele soziale Angebote wegfallen.“Wenn sie sich noch einmal entscheiden könnte, würde sie alles genauso machen, sagt Kruse: „Ich bin glücklich, dass ich so viel erreicht habe.“ Vor allem bei der Gleichstellung von Frauen habe sich viel getan. „Früher wurden Nachrichten und politische Talkshows ausschließlich von Männern moderiert“, erinnert sie sich. Heute seien Frauen in diesen Berufen gang und gäbe. „Bei den Frauenrechten sind wir auf einem guten Weg, aber es ist noch einiges zu tun“, sagt die 85-Jährige.
Das zeigt sich auch bei der Ehrenbürgerschaft, die ihr voraussichtlich bei der Ratssitzung am Donnerstag, 19. Dezember, verliehen werden soll. Denn seit der Rat der Stadt diese Auszeichnung 1956 das erste Mal vergeben hat, ist sie ausschließlich Männern zuteilgeworden. Neben Fußball-Nationalspieler Per Mertesacker erhielten vor allem ehemalige Bürgermeister aus Pattensen und seiner Partnerstadt Saint-Aubin-lès-Elbeuf diese Ehrung. Laut Stadtsprecherin Andrea Steding werden die Ehrenbürger und künftig auch Pattensens einzige Ehrenbürgerin als Ehrengäste zu allen öffentlichen Veranstaltungen eingeladen.