Der Schlüssel zum langen Leben?
Die japanische Philosophie „Hara hachi bu“ verspricht ein gesundes Leben durch bewusstes Essen. Doch wie funktioniert das?

Bewusstes, langsames Essen ohne Ablenkungen: Das Sättigungsgefühl entsteht durch ein Zusammenspiel verschiedener Organe undHormone.Foto: Renji Desh / Unsplash
Berlin. Die Inseln des langen Lebens liegen mitten im Ostchinesischen Meer, vor der Küste Japans. Okinawa. Ungewöhnlich viele Menschen dort werden 100 Jahre und älter. Die Inselgruppe gehört deshalb zu den fünf weltweiten „Blauen Zonen“, also Regionen, in denen die Menschen länger leben als der Durchschnitt.

Dan Buettner, Langlebigkeitsforscher und Buchautor, hat die „Blauen Zonen“ besucht, um das Geheimnis der Hundertjährigen zu lüften. Auf Okinawa stieß er dabei auf eine interessante Ernährungsphilosophie, über die er 2020 in einem Gastbeitrag für den US-Sender CNBC berichtete: „Hara hachi bu“. „Achtsames und bewusstes Essen ist eine wichtige Eigenschaft, die nachweislich zur Langlebigkeit der Bewohner Okinawas beiträgt“, schrieb er damals.

Jüngst hat die japanische konfuzianische Lehre als Strategie zur Gewichtsabnahme an Bedeutung gewonnen. Dabei ist sie weit mehr als das.

Worum es bei „Hara hachi bu“ geht, verrät der Name. „Hara“ bedeute Bauch, „hachi“ stehe für die Zahl Acht und „bu“ für Prozent, erklärt Asako Miyashita. Sie arbeitet als Ernährungsberaterin in New York und ist in Japan aufgewachsen. Die Ernährungsphilosophie „Hara hachi bu“ rät Menschen dazu, nur so viel zu essen, bis sie zu etwa 80 Prozent satt sind. Diesen Sättigungsgrad einzuhalten, sei gar nicht so einfach, sagt Miyashita, denn: „Wir haben verlernt, auf die Signale unseres Körpers zu hören.“

Das Sättigungsgefühl entsteht durch ein Zusammenspiel verschiedener Organe und Hormone. Gelangt Essen in den Magen, wird die Magenwand gedehnt. Dies wird von sogenannten Mechanorezeptoren an das Gehirn gesendet. Hinzu kommen sogenannte Chemorezeptoren im Darm und in der Leber, die erfassen, wie viele Nährstoffe aufgenommen wurden. Hormone werden ausgeschüttet, unter anderem von der Bauchspeicheldrüse, die dafür sorgt, dass der Blutzuckerspiegel steigt. Erst wenn der Hypothalamus, die Schaltzentrale des vegetativen Nervensystems im Gehirn, registriert, dass der richtige Hormonspiegel erreicht ist, fühlen wir uns satt.

Die Wissenschaft geht davon aus, dass zwischen dem ersten Bissen und einem Sättigungsgefühl im Schnitt 15 bis 20 Minuten liegen. Das bedeutet: Je langsamer man isst, desto eher registriert man den Punkt, an dem der Körper satt ist.

Doch häufig verpassen wir diesen Zeitpunkt – aus verschiedenen Gründen. Weil wir zu emotionalem Essen neigen, gerade wenn wir gestresst sind. „Wenn man viel Stress hat oder traurig ist, essen manche Leute einfach, was immer sie mögen, um sich besser zu fühlen“, sagt Miyashita. Hinzu kommt ein Überangebot an Essen, auch auf den Tellern. Die Portionen seien zum Teil so groß, dass es schwerfalle, sich an die 80-Prozent-Grenze zu halten. „Gerade, weil viele Menschen mit der Denkweise groß geworden sind, dass sie immer aufessen müssen.“

Außerdem neigen wir dazu, zu schnell zu essen. „Wer zu schnell isst, kann eher die hormonellen Signale verpassen“, sagt die Ernährungsberaterin. Und: Oft essen wir mit Ablenkungen – seien es Smartphones oder Zeitungen, die uns am Küchentisch Gesellschaft leisten.

„Es gibt Hinweise darauf, dass etwa 70 Prozent der Erwachsenen und Kinder während des Essens digitale Geräte benutzen“, schrieb Aisling Pigott, Dozentin für Ernährungswissenschaft an der britischen Cardiff Metropolitan University, in einem Beitrag für „The Conversation“. „Dieses Verhalten wird mit einer höheren Kalorienaufnahme, einem geringeren Obst- und Gemüsekonsum und einer höheren Häufigkeit von gestörten Essverhalten wie Einschränkungen, Essanfällen und übermäßigem Essen in Verbindung gebracht.“

„Hara hachi bu“ steht genau für eine gegensätzliche Ernährungsweise: „Wenn wir uns bewusster mit unserer Ernährung auseinandersetzen und uns Zeit nehmen, um zu schmecken, zu genießen und das Essen wirklich zu erleben, wie es ‚Hara hachi bu‘ betont, können wir wieder eine Verbindung zu unserem Körper herstellen, die Verdauung unterstützen und uns für nahrhaftere Lebensmittel entscheiden“, sagte Pigott. Die Studienlage zur Wirksamkeit von „Hara hachi bu“ ist zurzeit noch begrenzt. Bisherige Studien hätten nur die allgemeinen Ernährungsweisen von Menschen in den Regionen untersucht, in denen die Ernährungsphilosophie weitverbreitet ist, und nicht die „80-Prozent-Regel“ isoliert betrachtet, so die Ernährungswissenschaftlerin. Erste Erkenntnisse würden aber darauf hindeuten, dass „Hara hachi bu“ mit einer geringen Kalorienzufuhr, einem niedrigeren Body-Mass-Index und einer langfristig geringfügigen Gewichtszunahme in Verbindung steht. Pigott warnt aber davor, die Ernährungsweise nur als Abnehmmittel anzusehen. Dadurch bestehe die Gefahr, in einen „schädlichen Kreislauf aus Einschränkungen und Dysregulation“ hineinzugeraten. Sich nur darauf zu konzentrieren, weniger zu essen, lenke auch von wichtigen Aspekten der Ernährung ab, wie der Qualität der Ernährung und der Aufnahme spezieller Nährstoffe, sagte sie.

„Hara hachi bu“ ist daher nicht für jeden geeignet. Ernährungsberaterin Miyashita rät etwa Menschen mit Essstörungen, Athletinnen und Athleten sowie Kindern von der Ernährungsweise ab. Denn sie hätten oft einen höheren und spezifischeren Nährstoffbedarf.

Sich grundsätzlich bewusster zu ernähren, schadet hingegen niemandem. Laut Pigott sei es schon vor dem Essen ratsam, in sich hineinzuhören und sich zu fragen: Bin ich wirklich hungrig? Und wenn ja, was für eine Art von Hunger ist es – ein körperlicher, emotionaler oder nur gewohnheitsmäßiger Hunger? „Wenn Sie sich gelangweilt, müde oder gestresst fühlen, halten Sie einen Moment inne“, empfiehlt die Forscherin. „Sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen, kann verhindern, dass Essen zu einem automatischen Bewältigungsmechanismus wird.“

Aus Sicht von Miyashita sei bei einer bewussten Ernährungsweise wie „Hara hachi bu“ vor allem eines wichtig: Training. Zu Anfang kann es etwa hilfreich sein, die Augen zu schließen und den Geruch, die Textur und den Geschmack des Essens bewusst wahrzunehmen. Ablenkungen wie Handys sollten vom Küchentisch verbannt werden. „Am besten legt man eine ablenkungsfreie Zeit fest, in der man sich nur auf das Essen konzentriert“, rät Miyashita.

Hilfreich könne es auch sein, das Essen auf verschiedene Schalen und Platten aufzuteilen, statt es auf einem großen Teller anzurichten, empfiehlt die Ernährungsberaterin. So lassen sich zu große Portionen verhindern. Wer mit Essstäbchen isst, erzielt den zusätzlichen Effekt, dass er länger für das Essen braucht. Wichtig ist dann noch, langsam und bewusst zu essen, also jeden Bissen zu genießen.

Ziel soll ein angenehmes Sättigungsgefühl sein, kein Völlegefühl. Miyashita empfiehlt nach 15 bis 20 Minuten einmal in sich hineinzuhören: Hat man noch Hunger oder ist man schon übersättigt? Wenn man schon ein leichtes Völlegefühl spürt, ist es ratsam, mit dem Essen vorerst aufzuhören. Bei „Hara hachi bu“ gehe es zudem nicht darum, „perfekt“ zu essen, merkte Pigott an. Sie rät, Selbstmitgefühl zu üben.

„Bei ‚Hara hachi bu‘ geht es darum, auf seinen Körper zu achten – und nicht darum, sich wegen seiner Ernährung schuldig zu fühlen.“



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