Helfen könnte ein Blick auf die nüchternen Zahlen. Doch die Datenbasis ist dünn. 2022 gab es laut Polizeidirektion in Hannover 1578 Verkehrsunfälle, in die Radfahrende verwickelt waren. In 53,9 Prozent der Fälle verursachten sie diese selbst. Fußgängerinnen und Fußgänger waren 357-mal in Unfälle verwickelt. In 47,6 Prozent der Fälle trugen sie dafür die Verantwortung. Das Problem: Die Polizei erfasst in ihrer Statistik nicht, wie oft es sich dabei um Unfälle zwischen Radfahrern und Fußgängern handelte. In den Daten sind auch Unfälle mit Autos und Stadtbahnen enthalten.
Für unsere Zeitung hat sie aber für die Jahre 2018 bis 2022 die Unfallzahlen mit Todesfolge genauer ausgewertet. Eine Auswertung sämtlicher Unfälle mit Verletzten wäre laut Polizei zu aufwendig gewesen. Ihren Daten nach gab es in diesen fünf Jahren in Hannover 177 Verkehrstote, darunter 19 Fußgänger. Zwei davon starben bei Unfällen, an denen Radfahrer beteiligt waren. In einem Fall wurde der Unfall vom Fußgänger selbst verursacht. Im selben Zeitraum starben zwölf Fußgänger bei Unfällen mit Autos. Das legt den Schluss nahe, dass von diesen für den Fußverkehr größere Gefahren ausgehen als vom Radverkehr.
Angelika Schlansky vom Fachverband FUSS e.V. sieht dennoch im Alltag im Radverkehr das größere Problem. „Die Rücksichtslosigkeit hat zugenommen, und die Räder sind durch die starke Verbreitung von E-Bikes schneller geworden“, sagt sie. Zwar räumt auch Schlansky ein, dass selten Fußgänger durch Radfahrer verletzt würden. „Aber man will auch nicht ständig eine Slalomstange sein.“
Schlansky begrüßt, dass viele Städte wie Hannover versuchen, die Dominanz des Autoverkehrs zu brechen und den Verkehrsraum neu aufteilen. „Aber ich bin gegen Radschnellwege in dicht bewohnten Gebieten, bei denen keine Zebrastreifen und Ampeln für Fußgänger gebaut werden“, sagt sie.
Dass viele Fußgängerinnen und Fußgänger im Radverkehr ein großes Problem sehen, geht auch aus einer deutschlandweiten Umfrage des Automobilclubs ADAC aus dem Jahr 2021 hervor. In dieser gaben 45 Prozent der Befragten an, dass sie Radfahrer als am rücksichtslosesten empfinden. Nur im Falle der Nutzer von E-Scootern war dieser Wert mit 47 Prozent höher. Autofahrer fanden nur 30 Prozent der Befragten besonders rücksichtslos.
Auch der Verkehrspsychologe Mark Vollrath sieht ein hohes Konfliktpotenzial zwischen Radfahrern und Fußgängern. „Nach unseren Studien liegt es daran, dass die Infrastruktur nicht geeignet ist“, erklärt der Leiter des Instituts für Ingenieur- und Verkehrspsychologie an der TU Braunschweig. Der Professor bestätigt, dass bei Radfahrern „relativ häufig Regelverstöße auftreten. Aber teilweise zwingt sie die Infrastruktur dazu.“ Radfahrende müssten sich diese häufig mit Fußgängern teilen.
Ein Problem sei, dass Radfahrer oft mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs seien, es aber kaum Möglichkeiten zum Überholen gebe. An großen Straßen fehlten Querungsmöglichkeiten, was größere Umwege nötig mache.
Der Verkehrspsychologe sieht „keine besondere Aggressivität bei Radfahrern“ oder Persönlichkeitsmerkmale, die diese von anderen Verkehrsteilnehmern unterschieden. „Der Unterschied ist, dass sie sich in einem anderen Umfeld und unter anderen Bedingungen bewegen.“ Autofahrer zum Beispiel zeigten dieselben Verhaltensmuster, wenn sie mit dem Fahrrad unterwegs seien, berichtet Vollrath.
Für den Automobilclub ADAC ist „gegenseitige Rücksicht eins der wichtigsten Themen, wenn es um die Verteilung des knappen städtischen Raums und das Miteinander im Straßenverkehr geht“, sagt Sprecherin Alexandra Kruse. Sie plädiert für „eine integrative Verkehrsplanung, die alle Verkehrsmittel berücksichtigt und aufeinander abstimmt und dadurch auch von allen Betroffenen akzeptiert wird“.
Eberhard Röhrig-van der Meer vom Radfahrerclub ADFC fordert „mehr Raum für Radfahrende und zu Fußgehende“. Wo diese Gruppen mehr Platz hätten, wie etwa am Ernst-August-Platz, funktioniere auch das Miteinander. Wo dieser fehle, wichen Radfahrende zum Beispiel für Überholvorgänge auf Fußwege aus, was zu Konflikten führe.
Auch für den Verkehrspsychologen Vollrath ist die Neuaufteilung des Verkehrsraums der entscheidende Schritt. „Ich bin fest davon überzeugt, dass das die Konflikte entschärfen wird“, sagt er. In Ländern, die diesen Weg schon gegangen seien, sei „die Regeltreue deutlich höher als in Deutschland“.