Die größte Gefahr ist der Mensch
Tiergarten und Eilenriede: Immer mehr Besucher missachten Regeln – das kann für Wildtiere lebensbedrohlich werden. Ein Rundgang mit dem Revierleiter.

Revierleiter Thomas Giese achtet darauf, dass Mensch und Tier in Hannovers Wäldern beide zu ihrem Recht kommen.Foto: Nancy Heusel
Hannover. Am Himmel braut sich was zusammen. Dunkle Wolken ziehen auf. Fernes Donnergrollen ist zu hören. Die Menschen mit ihren Wetter-Apps auf den Smartphones sind vorgewarnt. Obwohl es ein warmer Sommertag ist, geht an diesem Nachmittag niemand im Tiergarten im hannoverschen Stadtteil Kirchrode spazieren. Von irgendwoher ertönt Gebell. Vielleicht ist doch jemand mit seinem Hund unterwegs? Dabei sind Hunde im Tiergarten verboten. Thomas Giese klärt auf: „Das Bellen kam von einem Rehbock.“

Möglich, dass das Tier seine Artgenossen mit seinem Laut, in der Jägersprache „Schrecken“ genannt, auf eine Gefahr aufmerksam machen wollte – etwa, weil Menschen ihnen zu nahe kommen. Daher ist es auch untersagt, die regulären Wege im Tiergarten zu verlassen. Die Wiesen gehören den Wildtieren. Nur die Forstmitarbeiter haben Zutritt.

Doch immer wieder wollen Besucherinnen und Besucher das nicht akzeptieren. „Regelverstöße haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die Leute sind undisziplinierter geworden“, sagt Giese, Revierleiter für die südlichen Waldgebiete in der Stadt Hannover. Dazu zählt neben dem Tiergarten auch der Seelhorster Wald und die südliche Eilenriede.

Am Eingang des Tiergartens staunt man über ein Schild, auf dem eine lange Liste mit Dingen aufgeführt ist, die hier verboten sind. Wenig überraschend ist, dass Tiere weder gestreichelt noch gefüttert werden dürfen und Hunde draußen bleiben müssen, weil sie das Wild erschrecken oder – unangeleint – sogar hetzen könnten. Doch die Besucherregeln untersagen auch das Fliegenlassen von Drohnen und Picknick auf den Wiesen.

Beides sei schon öfter vorgekommen, und deshalb müsse man extra darauf hinweisen, erklärt Giese. Die Liste soll demnächst um das Verbot von Ballspielen erweitert werden. Auch damit habe es in der Vergangenheit mehrfach Probleme gegeben, bemängelt der Forstwirtschaftsmeister. Inzwischen hat die Stadt Hannover Wachpersonal eingestellt, das vor allem am Wochenende dafür sorgen soll, dass die Tiere möglichst ungestört bleiben und nicht verschreckt werden.

Manchmal kann der Kontakt mit Menschen sogar tödlich für die Tiere sein: Rotwild, Damwild und Rehe bringen ihren Nachwuchs meist im Mai und Juni zur Welt. In den Sommermonaten gibt es naturgemäß viele Kälber und Kitze. Manchmal befindet sich ein Jungtier allein auf der Wiese und hat noch nicht gelernt, sofort zu flüchten, wenn Menschen kommen. Wer dann solch ein Tier streichelt, setzt es dem Risiko aus, dass es von der Mutter nicht mehr angenommen wird.

In freier Natur ist das ein Todesurteil für den Nachwuchs. Im Tiergarten dagegen werden verstoßene Jungtiere mit der Flasche aufgezogen – so wie Alice. Die Hirschkuh hat seitdem keine Scheu vor Menschen, vor allem nicht vor Thomas Giese, auf den sie an diesem Nachmittag zutraulich zukommt und ihn bei seinem Rundgang auf einer der Wiesen ein Stück begleitet.

Es scheint, als ob sich Alice unter Menschen sogar wohler fühlt als unter ihresgleichen. Das Rotwildrudel, derzeit bestehend aus sieben weiblichen Tieren und zwei Hirschen sowie vier Kälbern, meidet sie in der Regel. Doch allzu zahm ist Einzelgängerin Alice auch wieder nicht – was ihr Glück ist. Andere Tiere, die zu viel menschliche Nähe gesucht haben, seien schon mit Weingummi und anderem ungesundem Zeug gefüttert worden, berichtet Giese. Zu ihrem Schutz sind sie nun anderorts artgerecht untergebracht.

Tierfreundliches Verhalten im Tiergarten ist – auch wenn es manch einem laut Giese offenbar schwerfällt – ziemlich leicht, weil man ja gut sieht, mit wem man es zu tun hat. Neben Rotwild, Damwild, Rehen und Wildschweinen, sind auch 13 Mufflons mit ihren acht Lämmern dort zu Hause.

Welche Tiere in der Eilenriede leben, ist vielen Spaziergängern und Fahrradfahrern dagegen oftmals kaum bewusst. Ein Eichhörnchen hat wohl jeder dort schon mal gesehen. Doch andere größere Tiere leben ziemlich versteckt in Hannovers Stadtwald. Selbst Giese und seine Mitarbeiter haben keinen umfassenden Überblick.

Immerhin können sie gut Spuren lesen und wissen: Gerade in der südlichen Eilenriede zwischen Döhrener Turm und Kirchröder Turm tummeln sich allerhand Wildtiere. So gibt es dort laut Giese seit etwa zwei Jahren Rehwild. Auch im Seelhorster Wald sind Rehe zu Hause. Ebenfalls heimisch in der südlichen Eilenriede ist derzeit eine Rotte von mindestens drei Wildschweinen. Außerdem fühlen sich Marder, Waschbären, Dachse und Hasen dort wohl – aber eher in Bereichen, wo wenig los ist. Leider seien das aber auch oft Gebiete, in denen Menschen immer häufiger Sperrmüll und Abfall entsorgten, berichtet Giese. Und der Müll kann für die Tiere gefährlich sein: Ein Stück Damwild sei vor einiger Zeit an einem verschluckten Kartoffelnetz verendet.

In der nördlichen Eilenriede zwischen Walderseestraße und Pferdeturm, wo deutlich mehr Menschen unterwegs sind als im südlichen Bereich, ist bislang kein Wild heimisch. Dafür leben Füchse dort. In Höhe des Pelikanbrunnens in der List soll ein Tier im Frühjahr eine ältere Katze angefallen haben. Zuweilen wird der Fuchs auch von Weitem von Spaziergängern auf Wegen gesichtet. Allerdings: Dass Füchse nur in die Nähe von Menschen kommen, wenn sie Tollwut haben, ist ein Mythos. „Die Tollwut ist in Deutschland ausgerottet“, beruhigt Giese.

Dagegen hatte ein mutmaßlicher Fall von Staupe 2018 in der Südstadt für Schlagzeilen gesorgt. Dort war ein offenbar krankes Tier im Wohngebiet aufgetaucht. Derzeit gebe es jedoch keine Hinweise auf die für Menschen ungefährliche Viruserkrankung, sagt Giese. Er warnt in dem Zusammenhang davor, sich Wildtieren mit atypischem Verhalten zu nähern oder sie anzufassen. Stattdessen solle man einen zuständigen Jäger informieren.

Dass Wölfe in der Eilenriede oder einem anderen hannoverschen Forstgebiet auftauchen, hält Giese nicht für unwahrscheinlich, zumal es 2022 bereits eine Sichtung in Hainholz gab. „Doch bleiben würden die Tiere eher nicht. Die Nähe zur Stadt ist für sie unattraktiv.“ Ist ein Wolf auf der Durchreise, wären Alice und ihre Artgenossen jedoch sicher vor ihm. „Sobald wir Hinweise darauf haben, treffen wir entsprechende Vorsichtsmaßnahmen an Zäunen und mit Wildtierkameras“, sagt Giese.

Und das Klima? Dürre und Starkregen machten den Tieren nichts aus, betont der Revierleiter. Futter- und Wasserquellen im Wald gebe es genug, sodass selbst die Waschbären nicht auf die Essensreste der Menschen angewiesen seien. Und so bleiben Menschen, die keinen Abstand wahren oder den Wald vermüllen, die größte Gefahr für die Tiere.



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