Elfer raus!“ wurde 1925 entwickelt, mit ernsten Absichten. Das Kartenspiel sollte Jugendliche davon abhalten, um Geld zu spielen. Die Karten sollten deshalb völlig anders aussehen als richtige Spielkarten, und das Spiel war (und ist) leicht zu erlernen. Wie gut diese Erziehungsmaßnahme tatsächlich funktionierte, lässt sich heute schwerlich feststellen. Sicher ist jedoch, dass seit seiner Markteinführung vor 100 Jahren Millionen von Kindern und Erwachsenen vergnügliche Runden mit dem Kartenspiel erlebten. Bis heute gehen rund 200.000 Exemplare pro Jahr über die Ladentheke. Damit gehört „Elfer raus!“ zu den weltweit erfolgreichsten Kartenspielen – generationsübergreifend bekannt und in fast jeder Familie zu finden – ein echter Klassiker eben.
Dieser Tage feiern einige dieser Klassiker Jubiläum. Das Kleinkinderspiel „Tempo, kleine Schnecke!“ wurde gerade 40, und „Das verrückte Labyrinth“ knackt im nächsten Jahr diese Grenze. Sie werden nach wie vor gerne gespielt, auch wenn manche Spielmechanismen etwas aus der Zeit gefallen wirken und nicht immer mit dem Tempo oder der Kreativität moderner Spiele mithalten können. „Die Klassiker haben ihre Berechtigung, sie sind oft einfach zu erlernen und haben einen hohen Wiederspielreiz“, sagt Steffen Bogen, Professor für Kunstwissenschaften an der Uni Konstanz und selbst erfolgreicher Spieleentwickler. Dazu kommt eine emotionale Verbindung. Bei einer Partie „Mensch ärgere Dich nicht“ kommen nicht nur Frust, sondern auch positive Erinnerungen an die eigene Kindheit auf.
Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Klassiker regelmäßig aus dem Regal geholt werden, ist groß. Generation um Generation wächst so mit den Spielen auf. Auch die Zeit spielt laut Bogen eine wichtige Rolle. Vor 40 Jahren oder gar 100 Jahren gab es auf dem Spielemarkt deutlich weniger Konkurrenz, ein Klassiker mit großer Anhängerschaft zu werden, war noch leichter als heute.
Heute ist die Auswahl in den Spielwarenläden deutlich größer. Etwa 1500 neue oder überarbeitete Spiele kommen pro Jahr auf den Markt und konkurrieren im Regal mit etablierten Titeln und Klassikern. Die Konkurrenz hat Folgen: Die allermeisten Spiele verschwinden nach ein bis zwei Jahren wieder aus den Regalen. Nur Titel, die sich nach drei bis fünf Jahren immer noch konstant gut verkaufen, gelten als etabliert und haben gute Chancen, dauerhaft zu bestehen. „Diese Masse bedeutet leider auch, dass Spiele schnell wieder verschwinden, die einen dauerhaften Platz in den Regalen verdient hätten“, sagt Bogen. Und das liegt nicht daran, dass in Deutschland zu wenig gespielt wird. Ganz im Gegenteil: Wir sind eine Spiele-Nation mit vielen Nischen, Genres und Spielenden zwischen 3 und 99 Jahren.
Vor allem die Corona-Pandemie hat der Branche einen gehörigen Aufwind gebracht, der bis heute anhält. Familien, aber auch erwachsene Spieler haben ihre Leidenschaft neu entdeckt und sind dabeigeblieben. Laut einer Studie des Meinungsforschungsunternehmens YouGov spielen 70 Prozent der Deutschen zumindest gelegentlich Brett-, Karten- oder Strategiespiele. In vielen Städten haben sich inzwischen Spieletreffs und Cafés mit regelmäßigen Brettspielrunden etabliert. Und noch wichtiger: Die Spielerinnen und Spieler geben gerne Geld für ihre Leidenschaft aus. Pro Jahr werden rund 700 Millionen Euro mit Brett- und Kartenspielen sowie Puzzles umgesetzt.
Nicht einmal das wachsende Angebot an Video- oder Mobile-Spielen hat daran etwas geändert. „Die Gaming-Branche ist zwar deutlich größer und umsatzstärker, aber verdrängt hat sie das Gesellschaftsspiel nicht. Ganz im Gegenteil, Versuche, analoge Spielwelten durch digitale Elemente zu erweitern, sind bisher eher gescheitert“, erklärt Matthias Karl, Spieleredakteur beim Ravensburger Verlag. Das physische Zusammenkommen mit Freunden oder der Familie ist also immer noch ein wichtiges Argument für das analoge Spiel – egal ob Klassiker oder Newcomer.
Doch was macht nun das Erfolgsgeheimnis von Klassikern wirklich aus? Kunsthistoriker Steffen Bogen hat selbst zwei Spiele entwickelt, die sich immerhin schon in den Spielregalen festgebissen haben. 2012 erschien „Schnappt Hubi!“, bei dem die Spielerinnen und Spieler einem diebischen Geist nachstellen, 2015 kam das Kamelrennspiel „Camel Up“. Beide wurden zum Spiel des Jahres gekürt und verkaufen sich bis heute gut. „Ob sie Klassiker werden, kann ich leider nicht sagen, aber sicher sind es schöne Erfolge“, sagt der Kunsthistoriker.
Nach dem Erfolgsgeheimnis der Klassiker gefragt, lautet seine schnellste Antwort: natürlich auch eine große Portion Glück – nicht nur beim Spielen selbst, sondern auch beim Verkauf oder der Aufmerksamkeit durch Kunden (oder Brettspiel-Influencer). Der Preis oder wenigstens die Nominierung für das Spiel des Jahres sind ebenfalls hilfreich. Diese Auszeichnung gilt nicht umsonst als Qualitätsmerkmal und ist ein wichtiges Kriterium bei der Verkaufsentscheidung. Und nicht zu vergessen: Natürlich muss am Ende auch das Spielprinzip originell sein und Lust auf die nächste Partie machen.
Wie sehen potenzielle Klassiker von morgen aus? Diese Frage beschäftigt vor allem Spieleredakteur Karl von Berufs wegen fast täglich. Vor allem die Spielmechanismen hätten sich geändert: Die Spielzeit hat sich inzwischen deutlich verkürzt. Und spielte man früher Runde für Runde, Zug für Zug abwechselnd, ist das Spielgeschehen inzwischen interaktiver geworden. Oft können und müssen die Spielenden gleichzeitig agieren, dadurch wird das Spiel selbst dynamischer und es gibt weniger Leerlauf. Auch die Taktik und Kreativität sind stärker gefragt.„Ein gutes Beispiel dafür sind Escape-Spiele für zu Hause. Sie haben sich längst als festes Genre etabliert“, sagt er. Hier müssen Rätsel geknackt, Verbrecher aufgeklärt oder Entführern entkommen werden. Gespielt wird allein oder im Team. Klassische Runden-Prinzipien gibt es nicht, stattdessen sind alle stets aktiv.