Aber was tun? Der ältere Herr, der an diesem Tag mit seiner Seniorengruppe „Gehen und sehen“ nach einem längeren Spaziergang im hannoverschen Tiergarten im Leonardo Hotel bei Kaffee und Kuchen sitzt, meldet sich in seinem Stadtbezirk Ricklingen zunächst zu einem Handy- und Tabletkurs an. Ein Jahr muss er warten – so lang sind die Wartelisten für die Seniorenangebote manchmal. Doch dann ruft ihn die zuständige Sozialarbeiterin, die die Angebote in Oberricklingen, Ricklingen, Wettbergen, Mühlenberg und Bornum koordiniert, persönlich an, um ihm einen freien Platz zu vermitteln.
Der rüstige Senior landet bei Frau Muhs – und damit bei einer hannoverschen Ehrenamtlichen, die der Einsamkeit älterer Menschen mit einer bemerkenswerten Verve entgegentritt. Das ist umso erstaunlicher, als Anja Muhs zum Ende ihres Arbeitslebens zunächst selbst durch gesundheitliche Attacken aus dem Tritt gerät. Am Ende ihres Berufslebens erleidet die langjährige Chefarztassistentin am Klinikum Region Hannover einen Burn-out und geht verfrüht in den Ruhestand.
Spricht man heute mit ihr, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass daraus nach und nach wieder ein Unruhestand geworden ist. Anfangs habe sie sich nur um ältere Menschen in der Nachbarschaft gekümmert, erzählt die heute 63-Jährige.
Für eine ältere Dame, deren Kinder im Ausland leben, kauft sie ein. Mal sind es die Augentropfen, die fehlen, dann wieder ist das Toastbrot alle. Irgendwann fragt sie nach, wie die Nachbarin ihren Tag verbringt. „Ich bin allein, ich gucke viel Fernsehen“, lautet die Antwort. „Wollen wir nicht mal zusammen spazieren gehen?“, bietet Frau Muhs der alten Dame an.
Was im persönlichen Umfeld beginnt, ist mittlerweile im Ehrenamt gemündet. Für gleich zwei Angebote ist Anja Muhs verantwortlich, als eine von 25 Ehrenamtlichen allein in ihrem Stadtbezirk, die Freizeitangebote für Senioren organisieren. Einmal im Monat geht sie mit einer Seniorengruppe zwei Stunden lang spazieren, zweimal im Monat bietet sie eine Handy- und Smartphoneschulung an. Die 63-Jährige, die verheiratet ist, zwei längst erwachsene Kinder und ein Enkelkind hat, will der Gesellschaft etwas zurückgeben.
„Es ist doch schön, Menschen zusammenzuführen“, sagt sie. „Es geht einfach darum, gemeinsam Zeit zu verbringen, sich auszutauschen, abzulenken vom Alltagstrott. Um mehr geht es doch nicht.“
Was so leicht klingt, ist in Wahrheit die Antwort auf ein großes Problem. Es gibt viele sozial isolierte Menschen in Deutschland. Und es sind mehr Menschen im Alter als Jüngere betroffen. In Hannover leben nach Angaben der Stadtverwaltung rund 138.000 Personen, die 60 Jahre und älter sind. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung. In gut 169.000 Haushalten wohnt zudem nur eine Person, darunter sind viele Ältere. Mehr als die Hälfte der pflegebedürftigen Menschen in Hannover, ungefähr 16.000 Personen, wird ausschließlich durch Angehörige gepflegt, kein ambulanter Dienst kommt ins Haus, keine Tagespflege wird in Anspruch genommen. Sowohl die Pflegebedürftigen als auch ihre Angehörigen sind – das ist die Erfahrung in der hannoverschen Seniorenarbeit – von Einsamkeit bedroht. Außerdem ist der Anteil der von Armut Betroffenen hoch. In Hannover beziehen mehr als 15.000 Senioren und Seniorinnen zur Sicherung des Lebensunterhalts Geld vom Amt, auch unter ihnen vereinsamen viele zunehmend.
Weil die Not im Alter immer größer wird, hat Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) bereits Ende 2023 eine bundesweite Strategie gegen Einsamkeit vorgestellt, die sowohl wissenschaftliche Forschung als auch konkrete Angebote enthält. In Hannover bietet der Kommunale Seniorenservice zurzeit rund 350 Gruppenangebote für Menschen ab 60 Jahre an, rund 90 Prozent finden wöchentlich statt. Bemerkenswert ist: Die Angebote werden nahezu durchweg von Ehrenamtlichen geleitet. In jedem Stadtbezirk werden sie von mindestens einer Sozialarbeiterin betreut.
Die Generation der Babyboomer, die jetzt in Rente geht, sorgt dabei offenbar für frischen Schwung. „Die ‚Neuen Alten‘ geben sich mit dem Ruhestand nicht zufrieden, die wollen was machen, ihr Wissen weitergeben. Das Ehrenamt wächst“, sagt Bianca Moldenhauer, die im Stadtbezirk Ricklingen die offene Arbeit mit Senioren koordiniert. Auch andere Vereine und Stiftungen wie die Bürgerstiftung oder das Freiwilligenzentrum Hannover haben das Thema auf dem Schirm.
Die Stadt Hannover legt zusätzlich jetzt zwei Wochen lang, seit Montag und noch bis zum 8. November, die Kampagne „Wir sind da. Mach mit! Gemeinsam gegen die Einsamkeit in Hannover“ auf. Die Idee war es, zuvor in den Quartieren dazu aufzurufen, in dieser Zeit Veranstaltungen und Aktionen für Senioren anzubieten. „Teilhabe soll ganz niedrigschwellig möglich sein. Gleichzeitig ist es auch Werbung für das Ehrenamt“, sagte Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) beim Start der Aktionswochen, an denen sich auch Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Migrantenorganisationen beteiligen. Das Programm kann sich sehen lassen: Rund 200 Aktionen und Veranstaltungen sind zusammengekommen, darunter so verschiedene wie ein „Puschenkino zum Feierabend in Döhren“, ein herbstliches Essen im Neubaugebiet Kronsberg-Süd, der Austausch älterer queerer Menschen in der Nordstadt und ein „Slow-Dating im besten Alter“.
Wie nötig das ist, kann man an diesem Tag im Leonardo Hotel von Anja Muhs und ihrer Gruppe lernen. Einsamkeit ist da nicht sofort das Thema. Im Gegenteil. Der Spaziergang bietet zunächst einmal den Raum, ganz zwanglos mit anderen im Spätherbst unterwegs zu sein, die Natur im Tiergarten zu genießen, zu plaudern und zwischendurch Wildschweinen und Rehen zu begegnen. Fragt man nach, wird aber schnell deutlich: Die Gruppe bietet auch Gelegenheit für Gespräche über tiefer liegende Dinge. Da ist ein Ehepaar – sie ist 69, er 80, beide waren in der Verwaltung im öffentlichen Dienst – das vordergründig gar nicht allein ist.
Schließlich haben sie noch sich selbst als Paar, und das schon seit 40 Jahren. Beide reisen viel. Die Kinder wohnen nicht in Hannover. Aber: „Ab einem gewissen Alter sterben einem die Freunde weg, die Eltern sind schon lange tot. Man muss sich einen neuen Freundeskreis suchen“, sagt die Frau. „Den findet man ja nicht so einfach beim Bäcker oder im Supermarkt“, ergänzt ihr Mann.
Da ist jener 81-Jährige, der über den Smartphonekurs von Frau Muhs in die Spaziergängergruppe kam. Das Handy sehen viele Senioren als neues Fenster zur Welt. „Ich möchte mitmachen“, sagt auch er zur Welt des Mobiltelefons, des Internets und der sozialen Medien schlicht. Mittlerweile könne er sogar an der Supermarktkasse mit dem Smartphone zahlen, darauf sei er stolz. Aber die Spaziergängergruppe biete ihm noch mehr. „Man kann hier auch seine Probleme auf den Tisch packen“, erklärt er. „Das hält einen hier.“
Und da ist die ältere Dame, die ihr Alter nicht nennen möchte. Sie sei „sehr ungern in Rente gegangen“, erzählt sie. Ihr Mann sei seit 14 Jahren krank, er bleibe lieber zu Hause. Sie aber liebe es zu laufen, wie mit der Gruppe an diesem Tag. Unvermittelt, mitten im Gespräch, steigen ihr die Tränen in die Augen. Es stellt sich heraus, ihre beste Freundin, ein naher Verwandter und der eigene Sohn sind vor nicht allzu langer Zeit kurz hintereinander gestorben. „Ich hab zuerst gedacht, ich verarbeite das irgendwie“, sagt sie. Aber: „Vielleicht braucht man doch Hilfe.“
Bei Frau Muhs findet sie jedenfalls Menschen, mit denen sie reden kann.
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