Andreas Kühn ist vorbereitet. 17 ausgedruckte Seiten liegen vor ihm, sie stecken voll mit medizinischen Fachbegriffen, Grafiken, Tabellen. Denn der Wirt des Tennis-Clubhauses von VfL Eintracht in Hannovers Südstadt, den alle Andi nennen, hat neben frisch gezapftem Bier, Snacks und Vereinsfeiern eine Mission: Zwei Herzinfarkte hat der leidenschaftliche Gastronom überlebt. Und er möchte, dass anderen Menschen diese Krisen erspart bleiben. „Ein Bluttest für 15 Euro beim Hausarzt kann Leben retten“, sagt der 52-Jährige.
Es war im Juni 2021. Kühn radelt von der Südstadt zu einem Zahnarzttermin am Aegi. „Ich bekam schwer Luft“, erinnert er sich an die ersten Vorzeichen. Abends ist das Europameisterschaftsspiel Deutschland gegen Ungarn angesagt, in seiner Kneipe „Stammplatz“ am Altenbekener Damm volles Haus. Kühn trinkt einen Liter Cola, legt die Füße hoch, will den Kreislauf stabilisieren. Aber da ist dieser Druck auf der Brust, der Schmerz im linken Arm.
Der damals 49-Jährige hadert mit sich. „Wenn ich jetzt einen Krankenwagen rufe, kann ich abends kein Bier zapfen.“ Da sieht er durch das Fenster an der Tankstelle gegenüber einen Krankenwagen. „Ich bin raus und habe gewunken.“
Eine kluge Entscheidung. Im Henriettenstift wird Kühn sofort operiert, minimalinvasiv wird ihm ein Stent gesetzt. „Ich hatte kurz einen Herzstillstand.“ Doch der schwierigste Part sei gewesen, mit diesem „Ereignis“ umzugehen. „Das war ein Schlag.“ Kühn stellt sein Leben um, misst jeden Tag Blutdruck, steht unter Kontrolle. „Wenn ich mal übertreibe, zieht mir Dani am Ohr – sie ist mein Gewissen“, erzählt er über die Frau an seiner Seite.
„Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass irgendetwas nicht passt.“ Obwohl Herzkatheter und EKG keine Auffälligkeiten zeigen. Trotzdem hat der Gastronom Panikattacken und Atemnot bei einfachen Spaziergängen.
Dann kommt der 4. Dezember. Kühn hört auf die Signale seines Körpers, sucht Ersatz für den Abend im „Stammplatz“, setzt sich ins Auto, fährt selber ins Henriettenstift. Und kommt direkt auf die Intensivstation, wird drei Tage später acht Stunden lang operiert – „drei Bypässe, weil drei Herzkranzgefäße verschlossen waren“. Der zweite Infarkt hat Folgen. Andi Kühn krempelt den linken Ärmel hoch, zeigt die Narbe am Arm, wo ihm Ärzte für das Herz Venenmaterial entnommen haben. „Die OP war ein Brett. Sie hat mich umgehauen.“
Aber wieder sind da die Fragen, auf die Kühn keine Antworten bekommt: Was war da los? Wie geht es weiter? Eine Freundin, die in einem medizinischen Labor arbeitet, hilft weiter. „Ich habe ein richtig großes Blutbild machen lassen, volles Rohr.“ Fast fünf Seiten umfassen die Daten. Und da steht er, der rote Kasten mit dem Ausrufezeichen: „Das Lipoprotein Lp(a) war massiv erhöht. Mein Wert lag bei 200, üblich sind 30.“ Nun versteht Kühn, dass sein Weg zum Herzinfarkt quasi vorgezeichnet war.
Er zitiert aus Studien, erklärt Begriffe. „Ich bin jetzt vom Fach“, scherzt er. Denn kaum jemand kennt das tückische Lipoprotein, das erblich ist und einen erheblichen „kardiovaskulären Risikofaktor“ darstellt. In einfachen Worten: „Es kann zu einer schweren Arteriosklerose kommen, bei der Ablagerungen die Arterien verstopfen“, erläutert Kühn. „Die Wahrscheinlichkeit für Herzinfarkt, Schlaganfall oder die sogenannte Schaufensterkrankheit, bei der die Durchblutung der Beinschlagader gestört ist, steigt auf bis zu 35 Prozent.“
Was ihn erschüttert: „20 Prozent der Menschen haben dieses Lipoprotein.“ Man könne es schon bei Jugendlichen nachweisen – wenn man das Blutbild nach speziellen Markern untersuche. Was hätte sein 20-jähriges Ich denn mit der Information gemacht? „Gute Frage.“ Der 52-Jährige gerät ins Grübeln. „Ich gehe heute viel achtsamer mit meinem Körper um.“ Wer wisse, dass er ein Risikopatient sei, habe zu Themen wie Rauchen, Übergewicht, Stress oder Alkohol eine andere Einstellung. Kühn hat die Belastung im Job reduziert, den „Stammplatz“ mit 18-Stunden-Tagen hat er aufgegeben („ein großer Schritt“), im Eintracht-Clubhaus kann er es ruhiger angehen lassen. Demnächst wird geheiratet, nach 17 Jahren geht es mit seiner Dani zum Standesamt.
Für Kühn waren die zwei Herzinfarkte prägende Einschnitte, er schluckt zwölf Tabletten am Tag, muss den Rest seines Lebens alle zwei Wochen zur dreistündigen Lipidapharese ins Dialysezentrum Hannover – das gefährliche Lp(a) wird dann ausgeschwemmt. „Die Behandlung ist teuer“, weiß er. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten aber in der Regel nur, wenn man bereits ein „Ereignis“ wie einen Herzinfarkt überlebt hat.
Der Clubwirt hat jetzt eine Mission: „Ich nerve alle, dass sie diese Untersuchungen machen sollen. Dann kann man frühzeitig Prävention betreiben.“ Denn in der Reha habe Kühn Menschen getroffen, bei denen man vermuten könnte, dass sie vielleicht auch Lp(a) in sich tragen. „Da waren junge Leute, die hatten mit 28 einen Herzinfarkt!“