Die Baufahrzeuge unter der Westschnellweg-Brücke machen einen Höllenlärm, als sie die Stadtbahnschienen aus der Verankerung reißen. Männer mit Presslufthämmern in orangefarbenen Warnwesten über der Arbeitskleidung und Ohrenschützern sind ein paar Meter weiter in Richtung Freizeitheim Linden unterwegs. Paul stört sich nicht daran.
Paul hat bis eben „Siesta gehalten“, wie er selbst sagt. Nun schält er sich aus seinem Bett, das aus zwei Matratzen und blauer Bettwäsche mit großen gelben Sternen besteht. Und er schaut mit freundlichen braunen Augen auf den Besuch. Paul heißt mit vollem Namen Sebastian Paul Petzold, ist am 25. November 1981 in Dresden geboren, im Sternzeichen Schütze. Das erkläre seine Freiheitsliebe, sagt er. Vielleicht auch ein Grund, warum er – so frei – auf der Straße lebt?
Paul ist obdachlos. Er erweckt den Eindruck, dass er ein zufriedener, in sich ruhender Mensch sei. Er habe, was er brauche, sagt er. Und er findet, dass er ein soziales Leben hat. „Die Kollegen sind nett, es gibt einen guten Zusammenhalt“, sagt er mit Blick auf andere obdachlose Menschen, mit denen er befreundet ist. Außerdem habe man ihm auch schon lange nicht mehr das Zelt angezündet.
Wie bitte? Das Zelt angezündet? „Achtmal ist mir das schon passiert“, berichtet Paul. „Zum Glück habe ich ein Messer, schneide damit das Zelt auf und rette mich raus. Sonst hätte ich arge Verbrennungen.“ Unter anderem in Süddeutschland, in Freiburg, sei das vorgekommen. Hat er keine Angst, dass es ihm wieder passiert? In Hannover, gerade hier im Quartier in Linden, sagt Paul, seien die Menschen nicht so. Und wenn doch? „Jetzt habe ich ja das hier“, sagt er entspannt und zeigt auf ein noch verpacktes neues Zelt. „Das ist feuerfest.“
Geschenkt hat es ihm ein Mann, der für eine Sicherheitsfirma arbeitet. Das und die kurbelbetriebene Taschenlampe, die Paul stolz vorführt. Und dann sind da noch andere Leute aus Linden und Limmer, die ihn ständig mit Dingen versorgen, von denen sie glauben, dass er sie benötigen könnte. Und die sich zum Beispiel über das Nachbarschaftsportal nebenan.de über den Zustand von Paul – und was er benötigen könnte – austauschen. „Ich habe 18 Paar Wanderschuhe“, erzählt er mit seinem leicht sächsischen Dialekt und grinst. Die hätten ihm die Leute aus der Umgebung gebracht, das rühre ihn. Eine Frau versorge ihn mit Tee, „am liebsten Earl Grey“, ein Bäckereiverkäufer schon morgens mit belegten Brötchen. Andere bringen ihm Schlafgelegenheiten. Paul liegt auf einer Matratze, um ihn herum liegen weitere. „Ich habe noch acht Matratzen, aber die verschenke ich weiter“, erzählt er. Brauchen könne er lediglich ein neues Handy. „Mein altes Nokia wurde mir geklaut.“
Ohnehin wird er sein Hab und Gut sortieren müssen. Das Ordnungsamt habe ihn aufgefordert, seinen angestammten Platz unter der Brücke zu verlassen, weil sein Lager auf dem Bürgersteig den Fußgängern zu viel Platz wegnehme. „Eigentlich dachte ich, die kommen schon heute.“ Was er nicht mitnehmen kann, wird vom Abfallentsorger Aha weggeräumt. Und so schaut er, dass er die lebensnotwendigen und ihm liebsten Dinge mitnimmt.
Wie ein paar Bücher – gerade liest er eines über Weinanbau –, seinen Campingkocher, sein batteriebetriebenes Radio, seine Thermoskanne, seine kurbelbetriebene Taschenlampe und eben das neue, feuerfeste Zelt, das noch in der Hülle steckt. Der spendable Sicherheitsmann radelt gerade vorbei, um Paul jemanden zu schicken, der einen Anhänger fürs Fahrrad hat. Weil ja der Umzug ansteht. „Damit wir deinen Kram hier wegkriegen.“
Paul wird erst einmal nebenan in die Parkanlage gehen. Er mag die frische Luft, die Natur, die Pflanzen. „Ich bin gelernter Gärtner“, drei Jahre habe die Ausbildung bei Dresden gedauert. „Ich bin sogar Gärtnermeister“, erzählt der 42-Jährige im Lärm der Bauarbeiten, die ihm nichts ausmachen. „Daran gewöhnt man sich. Als ich in der Stadt vor Hugendubel lag, war es lauter.“
Wie gesund kann man sein, wenn man auf der Straße lebt? Er fühle sich fit, sagt Paul, und er habe seit langer Zeit keine Erkältung mehr gehabt. Sein Arzt sei zufrieden mit ihm. „Der schaut manchmal nach Feierabend mit seinem schwarzen Arztkoffer vorbei, horcht mich ab und so. Der ist auch richtig nett.“
Obdachlos ist Paul seit Jahren oder gar Jahrzehnten – je nachdem, wie man es rechnet. Er habe auch schon in Wohnungen gelebt, aber irgendwas sei ja immer: die Miete zu teuer, die Wohnung mit 17 Quadratmetern zu klein, „diese Enge halte ich nicht aus.“ Die habe ihm auch im Gefängnis zu schaffen gemacht, In Dresden habe er zwei Monate wegen Schwarzfahrens hinter Gittern gesessen. „Seitdem bin ich nie wieder schwarzgefahren. Dann nehme ich bei weiteren Strecken lieber den Rollstuhl“, sagt Paul, der große Probleme mit dem Rücken und den Knien hat.
Auf seiner Stirn prangen drei Fragezeichen – die hätten ihm drei gute Freunde gestochen, erzählt er. „Die sind alle an Krebs gestorben, und jeder von ihnen sollte mir noch ein Tattoo machen. Wenn ich jetzt in den Spiegel gucke, erinnere ich mich an sie.“ Die Freunde hätten ihn auch vor Notunterkünften gewarnt. „Da muss man die Schuhe nachts festkleben, sonst sind die weg.“
Dann kommt Robin Muthalayah vorbei, legt Paul drei PET-Flaschen mit Limo und Cola auf die Matratze, außerdem einen 20-Euro-Schein. Kennt man sich? „Nein“, sagt der 25-jährige VW-Arbeiter, „aber ich habe schon öfter gesehen, dass hier jemand liegt. Und ich gebe gern.“ Sagt es mit einem offenen Lächeln und wünscht „einen schönen Tag“.
„Ja, die Menschen hier sind wirklich freundlich“, meint Paul. Selbst Betrunkene, die nachts vorbeikämen, weckten ihn zuweilen und fragten, „ob ich auch einen Schluck will“. Manchmal schon, sagt er und nippt an seiner Flasche „Biancas Mädchentraube“, ein lieblicher Weißwein. „Wodka habe ich mir abgewöhnt.“ Außer Nikotin und Wein lehnt er für sich Drogen ab. „Warum auch sollte ich Kokain oder Heroin nehmen?“ Er sehe zu viele, die davon abhängig seien. „Meist die Frauen, die auf der Straße leben.“ Ein Grund, warum er hier keine Liebschaften eingehe. „Die möglichen Partnerinnen, die ich haben könnte, will ich nicht.“
Er wirkt nicht so, als würde ihm das fehlen. Ebenso wenig wie eine Wohnung – oder wenn, dann eine in Konstanz, wo er zwischendurch lebte. „Aber das ist ein zu teures Pflaster.“ Hat er denn einen Hund gehabt wie viele andere Obdachlose? „Mein letzter hieß Erik, der wurde 16 Jahre alt.“ Vielleicht holt er sich einen neuen tierischen Begleiter, wenn wieder Geld reinkommt – sprich: Wenn er sich wieder in der Berliner Allee bei der Diakonie anmeldet.
Dort sitzt die Wohnungslosenhilfe, dort erhalten obdachlose Menschen Postfächer, in denen dann auch Schreiben der Behörden landen. „Ohne Postfach kein Hartz IV. Ach ja, Bürgergeld heißt das ja jetzt.“ Bis dahin lebt Paul von dem, was ihm freundliche Menschen wie Robin Muthalayah zustecken. Er braucht ja nicht viel.
Nur einmal im Jahr ziehe es ihn massiv in die alte Heimat, ins Erzgebirge. „Ich muss immer wieder dahin, die Natur ist einmalig.“ Wohnen könnte er bei seiner Schwester in Dresden, die das Elternhaus geerbt habe und die sein altes Zimmer für ihn bereithalte. Doch dann schlage er seinen Schlafplatz wieder lieber im Wald auf. „,Dir ist nicht zu helfen’, sagt meine Schwester immer, wenn sie mich besucht oder ich sie“, erzählt er. Warum nicht? Paul zuckt mit den Schultern. Weil er sich nicht ändern werde. „Ich bleibe, wie ich bin. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch.“