Jeden Dienstag ist die Sozialarbeiterin Ramona Ligendza mit einem Team von rund vier Personen auf Tour, verteilt Essen, heiße Getränke, Schlafsäcke und auch mal eine Umarmung. Abgewiesen wird niemand, sagt sie. Gut erkennbar in Neongelb geht sie auf die Menschen zu. Man merkt: Die meisten kennen sie schon. Sie grüßen die Sozialarbeiterin wie eine alte Freundin. Sie weiß, wie sie mit den Menschen sprechen muss, findet je nach Situation den passenden Ton. „Die Arbeit gibt mir super viel. Man bekommt einfach so viel von den Menschen hier zurück“, beschreibt sie. Dabei glänzen ihre Augen hinter den Brillengläsern.
Als Nächstes fährt der Bus weiter zum Opernplatz. Hier ist der Andrang noch größer. Rund 30 Menschen sind gekommen. Das Klischee vom Obdachlosen auf der Parkbank löst sich im Gespräch mit den Menschen in Luft auf. Viele derjenigen, die sich an diesem Abend eine warme Mahlzeit oder auch einen heißen Apfelsaft holen, können danach weiter zu einem warmen Schlafplatz. Sie kommen in sozialen oder öffentlichen Einrichtungen oder bei Bekannten unter. Trotzdem sind sie obdachlos. „Vermutlich hat jeder Mensch in seinem persönlichen Umfeld mindestens eine Person, die von verdeckter Obdachlosigkeit betroffen ist.“ Von Couch zu Couch surfen, nicht wissen, wo man als Nächstes unterkommt: Ja, auch das ist Obdachlosigkeit, wenngleich in diesem Fall verdeckt.
Oft landen Menschen nach einer Trennung auf der Straße, erklärt Ligendza. „Das geht manchmal ganz, ganz schnell.“ Am Opernplatz können das viele bestätigen. „Stell dir das doch vor, wenn du dich von deinem Freund trennst und dir die Wohnung gehört, natürlich schmeißt du ihn dann raus“, erklärt uns ein Mann. Wegen seiner Naivität trage er irgendwie eine Mitschuld für seine Situation. Sein Freund stimmt ihm zu: Ihm sei das Gleiche passiert. Mittlerweile habe er eine neue Freundin und einen Platz im Männerwohnheim. Letzteren werde er aber nie wieder aufgeben, egal wie positiv sich seine jetzige Beziehung entwickele.
Während Dampf aus den Tassen in ihren Händen steigt, unterhalten sich die Menschen. Der Kältebus bietet nicht nur eine Grundversorgung, er ist auch ein sozialer Treffpunkt. Viele der Menschen, die wohnungslos sind oder in prekären Situationen leben, seien sozial isoliert, beschreibt Ligendza. Neben den eisigen Temperaturen bekommen sie auch oft die Kälte der Gesellschaft zu spüren.
„Das Schlimmste sind die Blicke“, erzählt uns ein älterer Mann. Mit zwei großen Einkaufstüten, dicker Jacke, Mütze und einer Schutzbrille, die eigentlich in ein Chemielabor der 1970er-Jahre zu gehören scheint, ist er an diesem Abend zum Kältebus gekommen. Manchmal wünsche er sich, die Menschen würden ihm ins Gesicht sagen, was sie denken. „Dann wären sie wenigstens ehrlich.“
Diese Ehrlichkeit kann aber auch drastische Folgen haben, argumentiert sein Begleiter, der neben ihm an seinem Tee nippt. Erst heute sei er von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen worden. Einig sind sich beide: Es gebe viel Feindseligkeit in der Bevölkerung. Auch Sozialarbeiterin Ligendza bestätigt das.
Die Strecke vom ersten Stopp am Steintor zum zweiten Stopp am Opernhaus läuft sie zu Fuß. Auf dem Weg versucht sie, weitere bedürftige Menschen abzufangen und über den Kältebus zu informieren. Normalerweise steht dieser nämlich am Kröpcke. Weil dort aber inzwischen der Weihnachtsmarkt ist, musste der Kältebus ausweichen. In der Vergangenheit habe es hier schon respektlose Zwischenrufe gegeben. „Ich will mir doch nicht für 6 Euro einen Glühwein kaufen und dann den Pennern beim Essen zuschauen“, zitiert sie einen.
Die stereotype Vorstellung des Penners, wie Obdachlose häufig herabwertend genannt werden, wird am Kältebus widerlegt. Die Menschen dort sind ein Abbild der Gesellschaft: alte und junge, Männer und Frauen. Die Diskussionen an diesem Abend unterscheiden sich kaum von denen, die wohl an manchen Stammtischrunden geführt werden. Da geht es um Veganismus, Greta Thunberg und den Auftritt von Friedrich Merz bei Anne Will.
Überhaupt sind die Menschen vor dem Bus nicht anders als die Menschen, die an dem Bus vorbeilaufen. „Nur die Wohnung entscheidet über Sein oder Nichtsein“, erzählt uns ein älterer Herr. Seit mehr als zwölf Jahren sei er wohnungslos. An den Tag seines Auszuges erinnere er sich noch genau. Selbst die Uhrzeit der Schlüsselübergabe wisse er noch: „Es war 22.06 Uhr. Ich habe mir noch eine Decke und meine Aktentasche genommen und bin zur S-Bahn gegangen.“ Das war 2009, seitdem habe er keine feste Bleibe mehr. Irgendwo sei er stolz auf sich, es so lange geschafft zu haben. Er erzählt, dass er im ersten Moment sogar erleichtert gewesen sei, als er seine Wohnung aufgeben musste. Angesichts des frostigen Winters weiß er aber: „Niemand lebt wirklich freiwillig auf der Straße. Das kann mir keiner erzählen.“
Auf der Temperaturanzeige im Kältebus prangt an diesem Abend ein dickes Minus vor der Eins. Es ist bitterkalt. Wer nicht wettergerecht angezogen ist, merkt das sofort: Die Füße kribbeln, als würden Tausende Ameisen über sie laufen. Die Finger an den Plastikgabeln sind steif. Auch wenn viele der Bedürftigen trotzdem auf der Straße schlafen. Viele finden den Weg zu den Notunterkünften wie der am Alten Flughafen zu weit oder wollen nicht riskieren, mit Unbekannten in einem Mehrbettzimmer zu schlafen. Deshalb verteilt das Team des Kältebusses auch Schlafsäcke.
Oft reiche ein einziger nämlich nicht aus, erzählt Olli. Der junge Mann ist nicht allein, immer dicht an seiner Seite ist sein Hund Tobbi. Zum vierten Mal seien die beiden obdachlos: „Immer, wenn es kälter wird, schmeißen die Menschen einen raus“, so ist Ollis Erfahrung. Ursprünglich kommt er aus Stuttgart. In Hannover ist er seit zwei Wochen. Hilfsangebote wie der Kältebus der Caritas sind laut Olli enorm wichtig, um sich zu versorgen.
Das beteuert auch Jürgen. Er trägt eine Baseballcap auf dem Kopf und sein weißer Bart reicht ihm bis auf die Brust. Obdachlos sei er schon lange. Vor vielen Jahren seien seine Eltern kurz nacheinander gestorben. Seine Schwester schmiss ihn schließlich raus. Obwohl er schon lange ohne feste Bleibe ist, sei dies der erste Winter, den er in der Kälte verbringe. Bis vor Kurzem hatte er ein Auto, in dem er schlafen konnte. Im Sommer bekam sein bisheriges Zuhause dann keinen Tüv mehr. Seitdem ist er von Hilfsangeboten abhängig, um einen Schlafplatz zu finden.
Geschichten wie die von Jürgen zeigen: Es gibt viele Gründe für das Leben auf der Straße. Selten ist ein Mensch allein für sein Schicksal verantwortlich. Das weiß auch Ramona Ligendza. Fragt man sie danach, welcher Mythos zum Thema Obdachlosigkeit sie am meisten stört, antwortet sie, ohne zu zögern: „Jeder ist doch selber schuld, wenn er obdachlos wird.“