Im Rausch von Social Media verlören die Kinder jedes Zeitgefühl, bestätigt Anne-Kathrin Jansen. „Es ist erschreckend, wie sehr das Handy den Kindern ihr Leben raubt.“ Die Mutter hat für ihre zwei Kinder klare Regeln aufgestellt: Bisher darf ihr jüngeres Kind nur das Handy der Eltern nutzen – unter Aufsicht. Auch die Dauer ist festgelegt: „Handynutzung erst ab zehn Jahren. Pro Lebensalter je eine Stunde pro Woche“.
Diese Haltung durchzusetzen sei nicht leicht. „In der Schule ist ein starker Gruppenzwang“, sagt Anne-Kathrin Jansen. „Meine Tochter ist mit ihren elf Jahren die Einzige in ihrer Klasse ohne eigenes Smartphone.“
Wie schnell Kinder in der digitalen Welt zu Hause sind, hat Aranka Eickmeier erfahren. „Mein Siebenjähriger hat ganz schnell herausgefunden, wie er die Zeitlimitierung auf dem Tablet aufheben kann“, erzählt sie.
„Die Welt entwickelt sich weiter“, sagt Franciska Wölki-Stünkel, Mutter einer Tochter. „Aber die Handynutzung läuft bei uns in ganz enger Begleitung.“ Jede App, die die 13-Jährige lädt, prüfen die Eltern, sie schauen sich Suchverläufe und Fotos an, sprechen mit ihr über Kettendrohbriefe und mehr.
„Wir haben auch einen Whatsapp-Führerschein mit ihr erarbeitet und über das Teilen von Fotos, Snapchat und anderes gesprochen. Ich bin Polizist, da erlebt man einiges in dem Bereich“, sagt Vater Cord Stünkel. Da setzt auch Silke Müller bei ihrem Vortrag an. Die Social-Media-Expertin war auf Einladung vom Regionselternrat gekommen, mehr als 300 Eltern hatten sich angemeldet. „Die Verantwortung tragen wir“, ermahnt die Keynote-Speakerin und Buchautorin. „Wir brauchen wieder Mut zur Erziehung. Wir können die Social-Media-Welt nicht den Kindern überlassen: Kinder in diesem Bereich zu regulieren, das ist nicht weltfremd.“
Wie, darauf gebe es keine einfachen Antworten. Das Handy wegzunehmen sei keine Lösung. Vielmehr müsse der Umgang eng begleitet werden. Dazu gehöre die kritische Betrachtung der eigenen Handynutzung. „Wie oft schauen wir in Gegenwart der Kinder aufs Handy? Wie viel Privates posten wir öffentlich? Was ist mit der eigenen Bildschirmzeit? Wir Erwachsenen sind Vorbild, auch in der Handynutzung“, mahnt Müller.
Die langjährige Schulleiterin spricht sich klar für ein Handyverbot an Schulen in unterrichtsfreien Zeiten aus: „Schulen müssen ein Schutzraum sein.“ Warum sie so radikal ist, begründet Müller in ihrem Vortrag. Kinder würden sich ganz selbstverständlich in einer Welt aus Algorithmen, Trends und Filtern bewegen. Viele Eltern hingegen seien da völlig ahnungslos.
Mit ihrem Vortrag will sie Eltern ermutigen, sich intensiv mit der Social-Media-Welt der jungen Menschen zu beschäftigten. Zum einen, um zumindest ein wenig zu ahnen, was dort passiert. Und zum anderen, um mit den Kindern wirklich ins Gespräch zu kommen. „Die Kinder sind nicht schuld – sie landen automatisch in den Filterblasen und Algorithmen“, sagt sie. „Sie können die Kinder nicht vor den Inhalten schützen.“
Ziel der Plattformen sei es, Menschen möglichst lange auf ihren Seiten zu halten. Auch die Kinder würden gezielt mit Themen versorgt, auf die sie ansprängen. „Reagieren sie, bekommen sie mehr gezeigt und landen immer tiefer in Bubbles.“Kinder diesen Mächten zu überlassen sei fahrlässig. Und es sei erschreckend, was für Kinder im Netz alltäglich sei. Ein Beispiel: In der Social-Media-Sprechstunde an ihrer Schule habe ein 15-jähriger Junge sie auf eine Seite hingewiesen, auf der man sehen könne, wie Menschen hingerichtet oder umgebracht würden. Das gehe gerade an der Schule viral, habe der Schüler erzählt und gesagt: „Wir Älteren kennen das ja, aber ich mache mir Sorgen um die Fünftklässler. Für die ist das doch zu hart.“
■ Was so alles im Netz kursiert: Mobbing, indem mit KI Bilder in Nacktfotos umgewandelt werden und über Snapchat verteilt werden. Spektakuläre Selfies auf Lost Places, lebensgefährliche Challenges wie ein Black out, bei dem sich Kinder bis zur Bewusstlosigkeit würgen. Scheinbar harmlose Spieleplattformen wie Roblox radikalisieren sich mit zunehmendem Level, Diät- und Abnehmtipps werden unter #skinnygirl oder #skinnyistheoutfit verbreitet, ein fragwürdiges Männerbild wird unter Looksmaxxing populär gemacht.■ Um mögliche Filter zu umgehen: Unter Algospeak oder Algotalk verstehe man das Codieren von kritischen Inhalten, warnt Müller. Ein Emoji wie die Aubergine stehe für Penis, die Kirsche für Brüste, Messer und Rasierer für Selbstverletzung. Dazu würden Worte bewusst falsch geschrieben oder Buchstaben mit Sternchen ersetzt. „Für uns scheinbar harmlos aussehende Nachrichten können einen kritischen Inhalt haben“, warnt die Expertin. „Die Ahnungslosigkeit der Eltern in diesem Bereich ist eine echte Gefahr.“