Der Weg ist weit. Er führt durch düstere Wälder und helle Blumenwiesen, durch eiskalte Landschaften und in lichte Höhen. Die kleine Gerda muss ihn gehen; es ist ihr eine Herzensangelegenheit. Sie muss ihren Freund Kay befreien und ein wenig auch sich selbst. Ein Märchen ist eine dringliche Angelegenheit, wenn man sein Publikum ernst nimmt – wie bei „Die Schneekönigin“ im hannoverschen Schauspielhaus.
„Ein kaltes Märchen mit einem warmen, leuchtenden Herzen“, nennt Moniek Merkx ihr Familienstück für Menschen ab sechs Jahren. Die Niederländerin ist eine der renommiertesten Regisseurinnen für Kinder- und Jugendtheater. „Die Schneekönigin“ nach dem Märchen von Hans Christian Andersen ist ihre erste Inszenierung für ein deutsches Theater. Es ist eine sehr feine, tänzerisch-musikalische Arbeit, trotz inhaltlicher Schwere federleicht und poetisch.
Um die Kinder Gerda und Kay geht es, darum, wie Kay in die Hände der Schneekönigin im ganz hohen Norden gerät, nachdem er getroffen wurde von einem Splitter eines abscheulichen Zerrspiegels, der alles, was ihn umgibt, grässlich und hässlich erscheinen lässt. Es geht in diesem Stück für unsere Zeit um erkaltende Herzen, Menschen in Schockstarre und die Notwendigkeit des Handelns, ganz spielerisch. Manchmal muss man einfach losgehen.
Los geht das Stück mit Musik. Christoph van Hal, auch bekannt als die eine Hälfte des hannoverschen Musikduos Milou & Flint, schichtet diverse Instrumente per Loopstation zu klingenden Landschaften. Jonathan Eduardo Brito, Leyb Elias, Paul Euler, Anne Kulbatzki, Yasmin Mowafek und Isabella Roth treten vor den Vorhang. Sie eröffnen dem Publikum, dass sie alle mal Gerda spielen werden, weil schließlich alle Menschen so wie dieses Kind mal mutig und mal ängstlich, mal fröhlich und mal traurig sind. Und weil Geschlechterrollen, insbesondere im Spiel, nicht wichtig sind. Eine rote Mütze mit langen Bommeln dient fortan der Identifikation.
Überhaupt ist diese Inszenierung so frei, wie es geht, und nur so konkret, wie es nötig ist. Sie lässt der Fantasie Raum zum Atmen. Der Aufwand aber ist groß. Die Theatermaschinerie zeigt, was sie kann, ohne damit anzugeben. Die Inszenierung ist eine Leistungsschau der Bühnenkunst ohne jede Marktschreierei, lustvoll und oft lustig, in einem Erzähltempo, das Zeit lässt.
Stilisierte Masken (Kostüme: Nicky Nina de Jong und Robin Simon) verwandeln die Spielenden in allerlei Flora und Fauna. Kulissen senken und heben sich wieder, verwandeln die Bühne (Sanne Danz und Anna Wörl) mal in eine Winterlandschaft, mal in ein frühlingsfrisches Farbenparadies, in der die Hochnäsigkeit eitler Blumen ihre Blüten treibt. Es geht durch Räuberwälder und in steile Gebirge, zu wahren Krämerseelen von Krähen und anderen schrägen Vögeln.
Der lange Weg Gerdas, gespickt von derlei Versuchungen und Gefahren, ist eben auch einer zu sich selbst. „Die Schneekönigin“ erzählt ganz nebenher vom ewigen Prozess des Erwachsenwerdens, der früh beginnt und nie so recht aufhört.Nur weil sich ein Stück auch an Kinder richtet, muss es nicht in Putzigkeiten ertrinken. Disneys sehr freie Adaption des Andersen-Märchens, „Frozen“, wird nur einmal völlig unverfroren zitiert, mit dem Lied „Let it go“. Im Schneegestöber schmelzen Herzen. Der Eisberg der Königin leuchtet am Ende regenbogenbunt. Der Weg war das Ziel. Der Applaus ist euphorisch, dauert lange an und gilt einem starken Ensemble aus Individuen. Im Foyer gibt es Waffeln.