„Ich bin richtig froh,
dass ich hier aufgewachsen bin“
Der Stadtteilbauernhof im Sahlkamp bietet Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen einen Rückzugsort.
Doch die Finanzierung der Einrichtung bleibt eine Herausforderung.

„Hier habe ich Verantwortung übernommen“: Nicole Kowollik (21, von links) kommt seit Jahren mit ihren Schwestern Esther (19) und Ikram (12) auf den Stadtteilbauernhof.Foto: Tobias Woelki
hannover. Philip Jung entgeht nichts. Der 18-Jährige – schwarzer Pulli, schwarze Arbeitshose, staubige Schuhe – merkt sofort, wenn jemand Neues den Hof betritt. Er nimmt Besuchende in Empfang und bringt sie zum Büro der Bauernhofleitung. Er ruft die Kinder zusammen, wenn das Essen fertig ist. Er weiß, welche Aufgaben zu erledigen sind: Tiere füttern, Ställe ausmisten, Gartenarbeit. Und am liebsten, so scheint es, trägt er sie den jüngeren Kindern auf, während er den Überblick behält.

Nicht immer war Philip so souverän. „Die Schule ist nie meins gewesen“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Er hat ADHS, doch die Medikamente habe er abgesetzt, erzählt er. „Die bringen eh nichts.“ In der Familie erlebt er Höhen und Tiefen. Seinen Vater kennt er nicht, mit dem Stiefvater komme er ganz gut zurecht.

Der 18-Jährige hat den Förderschulabschluss gemacht, den Hauptschulabschluss hat er nicht geschafft. Jetzt absolviert er ein Vorbereitungsjahr an einer Berufsschule, um nächstes Jahr eine Ausbildung zu beginnen oder ein Freiwilliges Soziales Jahr. So ganz genau weiß er das noch nicht.

All das erzählt er munter; auf dem Stadtteilbauernhof im Sahlkamp wird niemand nach Schulnoten bewertet. Hier geht es ums Zupacken, um die Gemeinschaft und die Tiere. Seit zwölf Jahren kommt Philip hierher, viermal die Woche. Am liebsten mag er die Esel.

„Wir sind wie eine zweite Familie für die Kinder und Jugendlichen“, sagt Angelika Bergmann, seit 19 Jahren pädagogische Leiterin und Geschäftsführerin des Stadtteilbauernhofs. „Einige haben ein schwieriges Elternhaus.“ Der Bauernhof ist ein offenes Angebot für Kinder und Jugendliche. Eltern müssen draußen bleiben. Junge Menschen sollen sich hier frei und zugleich geschützt entwickeln können. Durch den Umgang mit den Tieren erlernen sie Sozialverhalten und Verantwortung.

Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Denn wer an den Sahlkamp denkt, denkt eigentlich nicht an Ponys, Schweine und Hühner, sondern an graue Wohnblöcke. Arbeitslosigkeit, Kinderarmut, Alleinerziehende – in all diesen Bereichen liegt der Stadtteil deutlich über dem hannoverschen Durchschnitt, meist nur getoppt von Vahrenheide oder Mühlenberg. Viele, die hier leben, beklagen Jugendkriminalität und wachsende Unsicherheit. Philip drückt es so aus: „Das Verhalten der Leute im Stadtteil ist nicht das beste, aber man gewöhnt sich auch dran.“ Nicole Kowollik gehört wie Philip zu den rund 30 Stammgästen auf dem Stadtteilbauernhof. Als Kind ist sie oft umgezogen. Die Familie lebte in Mühlenberg, in der List, schließlich in Bothfeld. „Ich habe oft die Schule gewechselt und dann mit zehn oder elf Jahren vom Bauernhof erfahren“, erzählt die heute 21-Jährige. Zu Beginn durften Nicole und ihre Schwester Esther einmal pro Woche reiten, wenn sie mithalfen. „Angelika hat uns immer gefördert“, erzählt sie. Sie machten Reitabzeichen und ließen sich zur Trainerassistentin ausbilden.

Inzwischen ist Nicole jeden Tag auf dem Bauernhof, kümmert sich ehrenamtlich um die beiden Ponys Klara und Henningson, gibt Reitunterricht und darf im Gegenzug jederzeit selbst reiten. Daneben hat sie eine Reitbeteiligung auf einem anderen Hof, einen Nebenjob – und sie studiert auch noch Lehramt in Hildesheim. Für das Studium umzuziehen kam für sie nicht infrage. „Die Pferde halten mich hier.“

Auf dem Stadtteilbauernhof konnte Nicole ein eigentlich teures Hobby kostenlos ausüben – gegen fleißige Mitarbeit. Anders hätte sich die Familie das nicht leisten können. Mit ihrer Mutter, Schwester Esther und Halbschwester Ikram lebt sie in einer Vierzimmerwohnung. „Ohne Vater“, sagt sie knapp. Die Mutter arbeitet als Küchenhilfe und in einer Drogerie. „Sie hat versucht, uns alles zu ermöglichen, aber wir kommen nicht aus einem privilegierten Haushalt“, sagt Nicole. Daher sei sie dankbar für alles, was Angelika Bergmann und der Stadtteilbauernhof ihr möglich gemacht haben. „Hier habe ich Verantwortung übernommen und bin selbstständig geworden“, sagt die 21-Jährige. „Ich bin richtig froh, dass ich hier aufgewachsen bin und nicht nur am Handy.“

Auch Bergmann strahlt, wenn sie von Nicole erzählt. „Sie war am Anfang ganz schüchtern und hat sich nach und nach entwickelt“, erzählt die Sozialpädagogin. „Natürlich legt hier nicht jeder so eine Bildungskarriere hin, aber es lohnt sich für jeden Einzelnen, der seine Talente entdeckt und sich entfalten kann.“ Auch demokratische Prozesse lernen die Besuchenden ganz praktisch im Kinder- und Jugendparlament des Bauernhofs. „Dort können sie mitbestimmen, ob sie zum Beispiel basteln, backen oder zelten wollen“, sagt Bergmann.

Eine Frage aber treibt die Geschäftsführerin stets um: das Geld. Der Bauernhof wird zur Hälfte aus dem Haushalt der Stadt Hannover finanziert. Die übrigen 200.000 Euro akquiriert die Einrichtung selbst aus Spenden und über Stiftungen. Neben den zwei Vollzeitkräften ist der Bauernhof auf Praktikanten und Bundesfreiwilligendienstler angewiesen. „Es ist immer wieder eine große Herausforderung, unsere Existenz abzusichern.“

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