Mut zum Risiko
Eine Bild- und Wortekstase:
Falk Richters „Pride“ eröffnet die Spielzeit am Schauspiel Hannover

„Pride“ eröffnet die neue Spielzeit und die Intendanz von Vasco Boenisch im Schauspiel Hannover.Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Hannover. Die nächsten Jahre werden nicht einfacher werden, sagt Beck Helberg. Die rechtsextremen Feinde von Demokratie und Diversität sind weltweit auf dem Vormarsch. „We are allies!“, sagt er. „So let‘s get to work.“ Er reckt die Faust. Seine Mitspielenden tun es auch. Das Licht im hannoverschen Schauspielhaus geht aus. Und als es wieder angeht, folgt ein überwältigender, fast zehnminütiger Applaus im Stehen für die nun beendete dreistündige Bild- und Wortekstase namens „Pride“.

Ab an die Arbeit: Die Spielzeit am Schauspiel Hannover ist eröffnet und damit die Intendanz von Vasco Boenisch. In seiner Begrüßungsrede hatte er den ehemaligen Bundespräsidenten Norbert Lammert zitiert, damit, dass man „die Qualität einer freiheitlichen Gesellschaft“ weniger darin erkenne, „dass Mehrheiten entscheiden, man erkennt sie darin, wie eine Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht“.

„Pride“ von Autor und Regisseur Falk Richter also zum Neustart, 2021 am Königlichen Dänischen Theater in Kopenhagen uraufgeführt und für die deutsche Erstaufführung mit dem Ensemble komplett überarbeitet: Es ist ein Stück über queeres Leben und queere Liebe und, je länger der Abend voranschreitet, eins über das Leben und die Liebe an sich.

Es ist auch durchaus ein Wagnis, ganz gemäß dem Spielzeitmotto „Liebe will riskiert werden“. Mit den Worten „Wenn man etwas riskiert, muss man es am Anfang riskieren“, hatte Boenisch seinen Vorvorvorvorgänger Ulrich Khuon zitiert, der neben anderer Theaterprominenz im Publikum sitzt wie auch die Schauspielerinnen Anke Engelke und Katja Riemann.

Sie sehen Szenen wie diese: Leyb Elias reckt selbstbewusst die Regenbogenflagge, nach Selbstbeschreibung „ein nicht binärer jüdischer queerfeministischer Mensch mit einer Regenbogenflagge auf der Großen Bühne des Niedersächsischen Staatstheaters“. „Ja, was im Bundestag undenkbar wäre, ist hier möglich.“ Der Seitenhieb auf die aktuelle Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CSU) und ihre Flaggenverbote ist überdeutlich.

Die Spielfläche (Wolfgang Menardi) ist ein sehr wandelbares, sich drehendes Spiegelkabinett, ist Safe Space und große Bühne zugleich. Sieben Individuen tummeln sich darin in Kostümen (Andy Besuch) zwischen Camp und Haute Couture: Leyb Elias, Jonathan Eduardo Brito, Shirin Eissa und Michael Lippold aus dem Ensemble, Beck Heiberg, Sofia Södergård und Nick Weaver als Gäste.

Ihre Geschichten und damit ganze Menschenleben erzählen sie, vom frühen Coming-out bis zur Angst vorm Alter, von Selbst- und Fremdbildern, von Risiken und Möglichkeiten, von Erfahrungen der Zärtlichkeit und der Gewalt. Die Grenzen zwischen Sprech- und Tanztheater sind fließend, die Lieder (Musik: Nils Ostendorf) bestechend schön. Insbesondere Brito hat eine Stimme, die das ganz große Publikum verdient. Und immer geht es um Identitäten, die fluide sein mögen, aber nie verhandelbar sind, ganz jenseits sexueller Identitäten und Orientierungen.

Was für ein Auftakt! Szenen von Loriot’scher Beobachtungsgabe und Komik folgen auf Monologe berührender Introspektion. Jede Form von Theater findet in diesem Abend, der viel wagt und hörbar die Herzen des Publikums gewinnt, ihren Platz.

„Warum hast du nicht den Mut gehabt?“, hat sich der große Schauspieler Michael Lippold in seinem großen Monolog des Abends gefragt und war zu der Erkenntnis gekommen: „Mir steht alles zu, alles, was allen anderen auch zusteht.“ Alles ist möglich. „Pride“ zeigt: Liebe will riskiert werden, in allen Formen, Leben auch. Und Menschlichkeit sowieso.

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