„Das Problem ist längst in den Klassenzimmern angekommen“
Sogenannte „Incels“ verbreiten online frauenfeindliche Botschaften.Experten warnen: Digitale Gewalt gegen Frauen wirkt offline weiter – auch in Hannovers Schulen.

Sie hassen Frauen – und oft auch sich selbst: Sogenannte „Incels“ sind Männer, die unfreiwillig ohne sexuelle Beziehungen leben und dem Feminismus die Schuld daran geben. Häufig organisieren sich die Vertreter der Ideologie in Online-Foren.Foto: Jonas Dengler
Hannover. Es ist ein Selfie. Die rechte Hand unter den rechten Wangenknochen gelegt, lächelt eine junge Frau in die Kamera. Die Sonne scheint ihr auf die Stirn, Wind zerrt an ihren karamellbraunen Haaren. Im Hintergrund ragen Schiffsmasten in den blassblauen Himmel. Das Bild taucht im Internet in einem Forum auf, unter folgender Überschrift: „Mit diesem Untermenschen wollte ich Sex haben, aber sie hat mich abgewiesen.“

Das Forum richtet sich an sogenannte „Incels“. Der Begriff ist die Kurzform von „involuntary celibate“ – Englisch für unfreiwillig zölibatär. So bezeichnen sich Männer, die ohne Beziehung und ohne Sexualität mit Frauen leben – und dafür nicht sich selbst, sondern Frauen verantwortlich machen. Dabei handelt es sich nicht nur um wenige Einzelgänger: Experten beobachten sogar schon in den Schulen Feindseligkeiten gegen Mädchen.

„,Incels‘ sehen die Ursache ihres vermeintlichen Unglücks in gesellschaftlichen Bewegungen – allen voran im Feminismus“, sagt Sebastian Tippe. Er ist Diplom-Pädagoge, Traumafachberater, Fachkraft bei Kindeswohlgefährdung und Autor des Buchs „Toxische Männlichkeit. Erkennen, reflektieren, verändern“. Der Experte, der an der Leibniz Universität studiert hat und in Hannover lebt, beobachtet die Szene seit Jahren. Er sagt: „Viele dieser Männer glauben, ein natürliches Anrecht auf Sex zu haben, den sie sich mit Gewalt nehmen dürfen.“

„Incels“ seien davon überzeugt, dass Frauen heutzutage frei in ihrer Partnerwahl seien, sich dabei jedoch ausschließlich an vermeintlich allgemeingültigen Schönheitsidealen orientierten, denen sie wiederum nicht entsprächen. „Größe, Gewicht, Knochenbau, Haarwuchs und andere biologisch bedingte Merkmale werden zur Erklärung für die eigene Isolation herangezogen“, sagt Tippe. Die Folge: Wut, Frust – und ein Frauenbild, das von Hass und Verachtung geprägt sei.

Davon zeugen auch zahlreiche Beiträge im Forum – beispielsweise, wenn entmenschlichende Ausdrücke das Wort „Frau“ ersetzen. Größere Bekanntheit erlangte der Begriff „Incels“ im März auch durch die Netflix-Erfolgsserie „Adolescence“, die den gewaltsamen Tod einer Schülerin thematisiert.

Auch offen gewaltverherrlichende Einträge stoßen in der Community auf Zustimmung: „Es sollten mehr Vergewaltigungen in Filmen gezeigt werden, je mehr sie normalisiert werden, desto besser“, schreibt einer, die anderen feiern ihn dafür. Viele Posts geben zudem rassistische und antisemitische Gedanken wieder.

Die Community ist international vernetzt. Manche der Nutzer machen im Forum vage Angaben zu ihren Wohnorten. Einer sagt, er komme aus einer westdeutschen Großstadt. Ein anderer schreibt, er lebe in der Nähe von Hannover.

Nutzer zu kontaktieren, um sie nach ihrer Motivation zu fragen, ist im Rahmen dieser Recherche nicht möglich. Direktnachrichten verschicken dürfen nur User, die bereits sehr aktiv im Forum waren. Auch eine Anfrage an die Betreiber des Forums bleibt unbeantwortet. „Die Anbieter des auf dieser Website angebotenen Dienstes sind in keiner Weise für die von den Nutzern erstellten Inhalte und Konten verantwortlich“, heißt es in den Regeln des Forums.

Was ebenfalls aus den Regeln hervorgeht: Willkommen sind im Forum nur heterosexuelle Männer, die mindestens 15 Jahre alt sind. Im Forum findet man aber auch Einträge von Nutzern, die nach eigenen Angaben erst 14 sind.

„Das Problem ist längst in den Klassenzimmern angekommen“, sagt Marco Roock. Er arbeitet für den Verein Männerbüro Hannover und ist dort unter anderem als Projektleiter in der Arbeit mit sexualisiert grenzverletzenden Jungen und männlichen Jugendlichen tätig. Zudem führt der Diplom-Sozialwissenschaftler Präventionsveranstaltungen an Schulen in Hannover durch. Zwar sei er mit dem Begriff „Incel“ an den Schulen nicht konfrontiert. Aber: „In meiner Arbeit beobachte ich, dass es vermehrt zu Feindseligkeiten gegenüber Mädchen kommt – und auch zu sexuellen Übergriffen“, sagt Roock. Antifeministische Einstellungen nehme er bei Teenagern verschiedener Altersgruppen wahr. „Ich würde sagen, los geht es etwa mit 16 Jahren. Aber auch wenn man mit einem Zwölfjährigen spricht, kann man Ähnliches hören“, sagt Roock.

Auch Tippe hält regelmäßig Workshops an Schulen – unter anderem in Hannover. Immer wieder treffe er dabei auf Jungen, die Gewalt gegen Frauen per se leugneten und extrem auf das Thema reagierten, sagt Tippe. „Diese Jungen sind kaum erreichbar. Sie konstruieren sich selbst als Opfer und behaupten, dass alles, was wir über die Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen wissen, gar nicht existiere.“ Eine Argumentation, wie sie auch in „Incel“-Foren häufig zu lesen ist.

An welchen Schulen in Hannover sie diese Beobachtungen gemacht haben, verraten die Experten nicht, zum Schutz ihrer Klientinnen und Klienten. Eine stichprobenartige Nachfrage bei acht weiterführenden Schulen aus verschiedenen Stadtteilen ergibt: Zwei Schulen geben an, unter den Schülerinnen und Schülern keine entsprechende Stimmung zu beobachten, und verweisen auf Projektwochen zum Thema Sexualität und Beziehung. Sechs Schulen verweigern eine Stellungnahme, eine davon mit dem Hinweis, man stehe gerade am Anfang der Erarbeitung eines Kinderschutzkonzeptes.

Das schulpsychologische Dezernat des Regionalen Landesamtes für Schule und Bildung Hannover erklärt auf Anfrage, dass Beobachtungen, wie Tippe und Roock sie schildern, bei der Supervision für Schulsozialarbeit „noch kein Thema der Teilnehmenden“ gewesen seien. Ist Frauenfeindlichkeit unter Jugendlichen ein blinder Fleck im System?

Zumindest zeigt die Leipziger Autoritarismus-Studie 2024, dass etwa jeder sechste der 284 befragten 16- bis 25-Jährigen sexistischen und antifeministischen Einstellungen zustimmt.

Zwar ließen sich nicht alle Jungen von medialen Bildern beeinflussen, betont Tippe. „Und die meisten, vor allem jüngere Jungen, sind gut erreichbar, und man kann mit ihnen tolle und reflektierte Gespräche führen.“ Trotzdem besteht laut dem Experten dringender Handlungsbedarf. Denn wie schwerwiegend die Online-Radikalisierung Einzelner sein kann, zeigen Taten wie die des Neonazis Stephan B. Am 9. Oktober 2019 erschoss dieser nach einem missglückten Terroranschlag auf die Synagoge in Halle zwei Menschen und verletzte zwei weitere. Per Video äußerte B. im Laufe seiner Tat seine Verachtung gegenüber Frauen, Migranten und Juden. Zudem hörte er währenddessen ein Lied des Kanadiers Alek Minassian, der 2018 mit einem Auto in eine Menschenmenge raste, dabei zehn Menschen tötete und vor seiner Tat auf Facebook postete: „The Incel Rebellion has begun.“ Weltweit sind nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung bereits mindestens 50 Menschen durch „Incel“-Attentate getötet worden.

Wie viele „Incels“ es weltweit gibt, dazu gibt es keine genauen Zahlen. Allein in dem Forum, in dem das Foto der jungen Frau gepostet wurde, sind aktuell 31.700 Accounts registriert, jeden Tag werden es mehr. Die tatsächliche Reichweite könnte weit darüber liegen – die Inhalte sind öffentlich einsehbar, auch für Nicht-Registrierte.

Handy- oder Social-Media-Verbote seien nicht der richtige Weg, um Frauenhass vorzubeugen, sagen die beiden Experten aus Hannover. „Wir müssen an den Wurzeln ansetzen: bei gesellschaftlich problematischen Einstellungen, patriarchalen Machtverhältnissen – und bei den Jungen selbst“, sagt Tippe. Wichtig seien Positivbeispiele im Alltag. „Jungen brauchen Männer, die empathisch und liebevoll sind, die zuhören und Verantwortung übernehmen.“

Eltern und Lehrkräfte sollten Jugendliche mit radikaleren Ansichten nicht vorschnell verurteilen. „Damit erreichen wir sie nicht“, warnt Tippe. Stattdessen brauche es ehrliche Gespräche auf Augenhöhe. „Offenheit, echtes Interesse, Fragen stellen – das ist wichtig.“

Eins sollte man nicht vergessen, ergänzt Roock: „Verunsicherte Jugendliche müssen unterstützt werden.“ Zu Tätern würden vor allem Männer, „die eher am Rande stehen, die Mobbing ausgesetzt waren und in der Vergangenheit Opfer von Gewalt geworden sind.“ Viele litten unter psychischen Problemen. Laut einer Veröffentlichung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2021 leben viele „Incels“ mit Depressionen und Angststörungen. Gedanken an Selbstverletzung und Suizid seien in der Community weit verbreitet, heißt es in dem Bericht. Auch Studien aus Großbritannien und den USA stützen diesen Befund.

„Wenn ich draußen Paare, Familien und Freundesgruppen sehe, wird mir klar, dass sie alles haben. Sie haben Bindungen. Sie haben Sinn. Und ich habe nichts.“ So lautet ein weiterer Eintrag im Forum. Es ist nur einer von vielen dieser Art.

Menschen, die in einer akuten Krise stecken, können sich an die Telefonseelsorge wenden – anonym, kostenlos und rund um die Uhr. Die Telefonnummern lauten 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Betroffene, deren Bild ungefragt im Netz veröffentlicht wurde, findenTipps und Hilfe bei der Beratungsstelle HateAid (www.hateaid.org).



Druckansicht