Bücherschränke sind beliebt
Studierende der Hochschule Hannover haben die Orte zum Büchertausch genauer untersucht

Studierende untersuchen, wie gut die öffentlichen Bücherschränke in Hannover in der Bevölkerung ankommen. Dazu markieren sie die gespendeten Bücher mit Klebepunkten. Die Studenten Viktor Schönich und Robin Thamm füllen die Bücherschränke mit markierten Büchern.Foto: Tobias Wölki
Hannover. Eigentlich ist es offensichtlich, jetzt aber wissenschaftlich bestätigt: Viele Hannoveraner lieben die öffentlichen Bücherschränke und nutzen sie ausgiebig. Das Prinzip: Jeder kann dort kostenlos ein Buch mitnehmen oder selbst Lektüre abgeben, und das rund um die Uhr. Studierende der Hochschule Hannover haben die Tauschbörsen für Literatur sechs Wochen lang beobachtet. Die Frage: Wie gut läuft der Büchertausch wirklich?

Zum Start am 1. April standen insgesamt 2500 Bücher in acht ausgewählten Schränken. Jeder Band bekam einen Klebepunkt auf den Rücken. Am siebten Tag war bereits mehr als die Hälfte der markierten Bücher weg. Nach sechs Wochen hatten fast alle Exemplare neue Leser gefunden, nur 317 Bände (13 Prozent) blieben stehen.

Besonders ungewöhnlich: Im zunächst mit 517 Büchern heillos überfüllten Schrank am Weißekreuzplatz blieben ganze 27 Exemplare mit Punkt zurück. Dass nicht jedes Buch mitgeht, hat manchmal banale Gründe. „Auffällig viele markierte Bücher blieben in der obersten Reihe stehen, weil Menschen sie vielleicht nicht erreichen“, berichtet Professorin Jutta Bertram, die das Projekt leitet.

Was übrigblieb? Jahrzehntealte Bestseller, etwa „Die Päpstin“ von Donna Cross von 1996 oder Christine Brückners „Nirgendwo ist Poenichen“ über eine Flüchtlingsfamilie, die nach 1945 langsam in Westdeutschland Fuß fasst. Leonie Eckert, Studentin für Informationsmanagement, findet selbst diesen Rest gar nicht schlecht. „Belletristik kann man meist auch nach vielen Jahren noch gut lesen. Nur Steuerrecht von 1980 interessiert keinen mehr.“

Den ersten offenen Bücherschrank ließ die Stadt 2005 in Stöcken aufstellen. Dann kam eine Flut von Anfragen von Bezirksräten und von Bürgern. Inzwischen haben die meisten Stadtteile einen offiziellen Schrank zum Büchertausch, oft an zentralen Standorten. Kronsberg-Süd bekommt dieses Jahr Schrank Nummer 52. Zusätzlich stellen Vereine, Kirchen und Initiativen die Möbel auf eigene Kosten auf.

„Die Bücherschränke haben eine wahnsinnige Beliebtheit”, sagt Nicole Himmerich von der Stadtteilkultur und offiziell zuständig. Ein Indiz: Kaum stehe ein Schrank, sei er gut gefüllt. Was den Reiz ausmacht? Manche Leute freuen sich, wenn ihre alten Bücher neue Leser finden. Und die anderen schätzen den Glücksmoment einer unerwarteten Entdeckung. „Ich wähle ein Buch aus, auf das ich sonst vielleicht nicht gekommen wäre, lese rein und nehme es mit“, schildert es Himmerich. Sie selbst mache es genauso.

„Ich freue mich, wenn Menschen etwas finden, das sie schon immer mal lesen wollten“, sagt Dunja Rose. Gemeinsam mit ihrem Mann Robert Errington hat sie als Patin ein Auge auf den Schrank im Gilde Carré in Linden-Mitte. Der Brite Errington sorgt für englische Lektüre. Überhaupt: Sprachen wie Italienisch, Türkisch, Arabisch finden sich auch im Bücherschrank. Am Stöckener Markt entdeckten die Studis zahlreiche Bücher auf Russisch.

Was bei Rose in den Müllsack wandert: Ein Mathebuch für die 2. Klasse von 1986. Oder Gesundheitsbücher aus der Nazizeit. „Das braucht nie wieder jemand.“ Zu Hause hat das Paar weit mehr als tausend Bücher im Regal.

Entdecken lassen sich in der stationären Tauschbörse Autoren wie Eugen Ruge oder Bill Bryson. Und ganz aktuelle Bücher? „Die sieht man kaum, so schnell sind sie wieder weg“, berichtet Karin Meyer-Böer. Die 72-Jährige, selbst passionierte Leserin, kümmert sich um den Bücherschrank am Bemeroder Markt. Im Wechsel mit drei Frauen räumt sie auf, stellt Bücher wieder gerade. Die Kinderbücher wandern nach unten, wo die kleinen Abnehmer sie selbst erreichen können.

„Was ich lernen musste: Bücher auch mal wegwerfen. Das habe ich früher schlecht gekonnt.“ Kaputte oder mit Kaffeeflecken übersäte Exemplare gibt die Patin jetzt in den Müll. Mit Ekel erinnert sich Meyer-Böer daran, dass einmal Leute über Tage immer wieder Bücher mit dicker Schimmelschicht in den Schrank stellten. Ein No-Go.

Was Meyer-Böer nicht aussortiert: Peter Scholl-Latours „Tod im Reisfeld“ von 1980, ein damals weit verbreitetes Sachbuch über den Indochinakrieg. Oder die Bestseller von Johannes Mario Simmel, die viele Jahrzehnte in deutschen Wohnzimmern standen. Ein paar Restbestände wandern jetzt noch in die offenen Bücherschränke.

„Das sortiert sich von allein. Irgendwann nimmt es doch jemand mit“, meint Meyer-Böer. Der Bemeroder Bücherschrank sieht makellos aus. Darauf legen die Patinnen Wert. Auch an der Geibelstraße lassen sich die Buchtitel meist bereits durch die Plexiglasscheiben erkennen. Ganz anders an der Lutherkirche. Der Schrank ist fast komplett mit Graffiti, Aufklebern und Plakaten bedeckt. Das Möbelstück ist zugleich Mitteilungszentrale, kündigt Konzerte und Demos an. Eine Litfaßsäule der besonderen Art. „Das bildet die Stadtteilkultur ab”, sagt Studentin Eckert lächelnd. Die 35-Jährige wohnt in der Nähe und schätzt „ihren“ Schrank. Gerade hat sie entdeckt, dass der kaputte Griff an einer Klappe wieder ersetzt wurde. „Das freut mich sehr.“

Während andere Städte ihre Bücherschränke nach dem Aufstellen kaum noch pflegen, hat Hannover dafür einen Plan. Der Verein Werkstatt-Treff, der die Möbel baut, wartet und repariert sie bei Bedarf. Für die Kosten hat die Abteilung Stadtteilkultur ein kleines Budget.

„Es gibt neben den Paten stille Helfer, die mit aufräumen und aufpassen”, berichtet Himmerich. Seit 2020 gab es dennoch 15 Brandanschläge, bei denen Schränke beschädigt oder zerstört wurden. Ein neues Möbel inklusive Fundament und Aufbau kostet rund 3500 Euro. Meist trägt der lokale Bezirksrat die Kosten. Allerdings nicht immer. In Marienwerder und dem Sahlkamp, wo mehrmals Schränke brannten, ist kein Ersatz mehr geplant.

Und was halten Buchhändler von den Tauschbörsen? „Eine Supersache”, sagt Maria Glusgold, Inhaberin des Buchladens Mascha Kascha. Nicht jeder könne es sich leisten, für den Urlaub fünf neue Bücher anzuschaffen. Glusgold selbst bestückt den öffentlichen Schrank, wenn zu Hause die Regale überquellen.

Dirk Eberitzsch von der Buchhandlung Leuenhagen und Paris schätzt die Bücherschränke, weil sie das Lesen fördern. „Unser Problem sind die Nichtleser. Alle, die lesen, kommen auch irgendwann mal in den Laden und kaufen ein Buch.“

Von den Studis haben manche privat von ihren Kontrollbesuchen am Bücherschrank profitiert. So fand Viktor Schönich ein Buch über Indiana Jones und ein veganes Kochbuch. Leonie Eckert stieß am Roderbruchmarkt auf eine Reihe schöner Märchenbücher samt Forschungsliteratur. Ein Glücksfall. „Ich sammle Märchen und lese sie gerne vor.“





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