Der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio sagte dieser Tage im Deutschlandfunk, er bekomme beim Blick ins Grundgesetz nach wie vor „manchmal eine Gänsehaut“. Zu hören war das erstaunliche und sympathische Bekenntnis eines 70 Jahre alten Bonner Rechtsgelehrten.
Auch jüngere Deutsche, die sich einlassen auf das Grundgesetz, werden feststellen: Dies ist das bedeutendste und zugleich auch bewegendste Dokument der Deutschen, eine Richtungsbestimmung von kolossalem Format, die beste, die das Land je bekommen hat.
Diese emotionale Dimension allerdings erschließt sich nicht sofort. Denn das Grundgesetz kommt ohne großen Tusch daher. Nüchtern definiert es die Grundrechte und den Staatsaufbau. Es verspricht nichts, was es nicht halten kann. Alles aber, was es als Recht definiert, macht es einklagbar gegenüber dem Staat. „Die nachfolgenden Grundrechte“, heißt es in Artikel 1, „binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“Genau in diesem Punkt liegt das Befreiende. Schon Gustav Radbruch, sozialdemokratischer Justizminister der Weimarer Republik, lehrte, dass zur Demokratie mehr gehört als ein alle paar Jahre wiederkehrende Wahl. Für den Alltag des Einzelnen sei der funktionierende Rechtsstaat „wie Wasser zum Trinken und Luft zum Atmen“.
Das Grundgesetz hat den Durchbruch zum Rechtsstaat geschafft: mit klaren Regeln, einem starken Verfassungsgericht – und dem Verzicht auf Klimbim. Die Verfassung der DDR versprach noch weihevoll „die Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes“. Solche bloßen Programmsätze, schön schaumig, aber nicht einklagbar, nützen in Wahrheit niemandem.
Die 61 Männer und vier Frauen erarbeiteten binnen weniger Monate ein Grundgesetz für ein neues, demokratisches Deutschland. Vor allem die SPD-Frauen, die Juristin Elisabeth Selbert und die AWO-Geschäftsführerin Frederike Nadig, drücken dem neuen Grundgesetz mit der Kontroverse über Gleichberechtigung ihre Handschrift auf. Aber die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben vor 75 Jahren nicht nur einen stabilen Rechtsstaat konstruiert, sie haben auch eine Fülle von unausgesprochenen, aber unübersehbaren philosophischen Wegweisungen hinterlassen. Fünf dieser zeitlosen Weisheiten sind heute frappierend aktuell. Sie lassen sich lesen wie eine Anleitung, Aufregungen zu dämpfen, cool zu bleiben und vernünftige Lösungen zu finden – auch und gerade in schwierigen Zeiten.Das Grundgesetz durchkreuzt den Kinderglauben an den starken Mann. Die Bundesrepublik, schöne Grüße aus dem Jahr 1949, setzt auf erwachsene Bürgerinnen und Bürger, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst sind und mitmachen: in den Kommunen, in den Ländern und im Bundestag.
Das Grundgesetz verzichtet auf eine direkt gewählte Figur an der Staatsspitze. Der Bundespräsident braucht eine Mehrheit in der aus Bundestag und Vertretern der Länder zusammengesetzten Bundesversammlung. Beste Chancen hat, wer für Maß und Mitte steht. Der Kanzler braucht Mehrheiten im Bundestag. Auch von ihm wird eine Politik des Integrierens verlangt. Das erschwert ein Abdriften in Richtung Pomp, Polarisierung und Personenkult.Das Grundgesetz misstraut der Mentalität aufgewühlter Massen. Es sieht daher kein Plebiszit auf Bundesebene vor. Seit Jahrzehnten monieren Grundgesetzkritiker, mehr Elemente direkter Demokratie seien wünschenswert, etwa in Gestalt von Volksentscheiden. Doch inzwischen ist es etwas leiser geworden um diese Forderungen.
Es kann passieren, dass ein Referendum nur aufwühlende, unheilvolle Effekte nach sich zieht. Der Verfassungsrechtler Oliver Lepsius aus Münster nennt als Beispiel das Brexit-Votum der Briten. „Die Exekution eines Votums von 51,9 Prozent spaltet das Land“, sagt Lepsius. „Es spaltet Schottland und Nordirland vom Rest des Vereinigten Königreichs, es spaltet die politischen Parteien, es spaltet bis in die Familien.“ Eine Minderheit von 48,1 Prozent werde unterdrückt – dabei lege ein solches Zahlenverhältnis die Suche nach einem Kompromiss nahe.
In Deutschland läuft es anders. Da zeigt nicht ein knappe Mehrheit einer knappen Minderheit, was eine Harke ist. Das gesamte System bleibt auf Ausgleich angelegt, auf eine Steuerung aus der Mitte heraus und damit auch auf eine Dämpfung ungesunder Aufgeregtheiten.
Wünschenswert wäre eine entsprechende Korrektur im Stil der politischen Debatten: Deutschland braucht mehr Redlichkeit und Sachlichkeit – und weniger parteipolitische Verkniffenheit.
Das Grundgesetz will in der Auseinandersetzung mit Radikalen ein wehrhaftes, kein nervöses Deutschland. Genug Instrumentarien stehen bereit, bis hin zum kompletten Verbot extremistischer Parteien. Mit einer möglichen vorherigen Beobachtung als Verdachtsfall müssen Radikale leben, auch wenn ihnen das nicht gefällt. Deshalb stärkte das Oberverwaltungsgericht Münster soeben dem Bundesamt für Verfassungsschutz den Rücken und wies Klagen der AfD ab.
Die Gliederung Deutschlands in Länder kann übrigens helfen, radikale neue Kräfte auf den Prüfstand zu stellen. Schon oft boten die deutschen Bundesländer Extremisten eine Bühne für ihren Aufstieg – aber auch für ihren Abstieg. Im Landtag von Baden-Württemberg etwa saßen im Jahr 1968 plötzlich zwölf NPD-Abgeordnete – vier Jahre später war der Spuk vorbei.
In Sachsen-Anhalt bekam die DVU im Jahr 1998 knapp 13 Prozent der Stimmen. Dann hantierte ein DVU-Mann drohend mit einer Pistole, ein anderer fiel durch Hakenkreuzschmierereien auf, ein dritter durch Tierquälerei, gleich mehrere gaben ihren Ehepartnern Jobs als staatlich bezahlte Mitarbeiter. Das Ende vom Lied: Die DVU fiel in Sachsen-Anhalt, auf einer von Deutschlands 16 Rüttelstrecken, irreparabel auseinander, bevor sie dem Bundestag auch nur nahe kam.
Der Föderalismus, oft gescholten, wirkt wie ein Puffer gegen Populismus. Wächst im Zentralstaat Frankreich Wut auf „die da oben“, droht bei der Präsidentenwahl ein Denkzettel. Deutschland indessen ist mit seinen 16 Bundesländern wie mit 16 Stoßdämpfern unterwegs.
Weltweit ist Rechtsradikalen die Unabhängigkeit der Justiz ein Dorn im Auge. Angesichts der Debatten in Ungarn, Polen und Israel ahnen viele Deutsche mit Blick aufs Bundesverfassungsgericht: Nie war es so wertvoll wie heute. Es wäre weise, seine Unabhängigkeit noch zu stärken und für künftige Änderungen an seinem Rechtsrahmen Zweidrittelmehrheiten zu verlangen.
Die Richterinnen und Richter in Karlsruhe haben es in den vergangenen Jahrzehnten geschafft, sich in Deutschland mehr Vertrauen zu erwirtschaften als jede andere Institution. Immer wieder zeigten sie sich mutig und innovativ. Im Jahr 1983 zum Beispiel fand Karlsruhe nichts dabei, mal eben eine damals geplante Volkszählung zu stoppen, die von Union, FDP und SPD beschlossen wurde. Das Gericht störte sich daran, dass mit dem Datenmaterial ohne Wissen der Bürgerinnen und Bürger nebenbei die Melderegister der Kommunen abgeglichen werden sollten. Darin lag laut Karlsruhe ein Verstoß gegen die „informationelle Selbstbestimmung“ – dieses Recht war auch der Fachwelt neu. Das Gericht aber leitete es ab der Menschenwürde in Artikel 1 und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Artikel 2.Das Volkszählungsurteil wurde zu einer Art Urknall des Datenschutzrechts in Deutschland. Es beweist: Karlsruhe traut sich was. Es liefert zu einem Grundgesetz, das viele fälschlich für erstarrt halten, laufend aktuelle Updates – und hält es auf diese Art quicklebendig.
Der Einzelne ist in Deutschland freier und hat mehr Rechte, als er mitunter selbst ahnt. Zwei jüngste Beispiele: Ein Unionsabgeordneter klagte im Sommer 2023 in Karlsruhe wegen der Hektik der Ampelkoalition bei den Beratungen zum Heizungsgesetz. Ganz Berlin war verblüfft, als das Verfassungsgericht auf Wunsch dieses einzelnen Herrn tatsächlich das komplette Gesetzgebungsverfahren bremste. Dass die Regierungsparteien blamiert dastanden, war dem Gericht völlig egal. Der Schiedsrichter war auf Ballhöhe und griff zur Pfeife.
Erstaunen in Berlin löste auch das Urteil zur Sterbehilfe aus. Das Verfassungsgericht erklärte im Februar 2020 bis dahin geltende Beschränkungen für nichtig und urteilte: „Das Recht auf selbstbestimmtes Leben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen.“
Dabei dürfe der Einzelne auch Hilfe suchen. Der Bundestag hat es bislang nicht geschafft, diesem bahnbrechenden Urteil ein Bundesgesetz zur Sterbehilfe folgen zu lassen. Das ist ärgerlich, aber gar nicht so wichtig. Die Sache ist geklärt. Denn die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, darin liegt ihr seit 1949 ungebrochener Zauber, gelten auch so: unmittelbar.