Buss ist seit wenigen Wochen künstlerischer Direktor des Tollwoodfestivals in München, Bohnecke ist ins Familienunternehmen rund um das „Teestübchen“ am Ballhof eingestiegen. Dem Varieté sind sie weiter verbunden, mit Cirque Bouffon-Direktor Frédéric Zipperlin verbindet sie eine jahrzehntelange Freundschaft. Wer das GOP liebt, wird in der Minimanege dahinschmelzen.
Denn „Paraiso“ braucht keine Worte. Alle Artistinnen, Clowns, Musikerinnen und Artisten streben nach der einen Krone, die auch die Figur auf dem Plakat trägt. Aber sie tun das mit Mimik, Bewegung, wohlgesetzten Gesten. Es kommt auf jeden Augenaufschlag an, jedes Zucken des kleinen Fingers. Im Zirkusrund kann das Publikum alles aufsaugen, stets neue Details entdecken. Denn Zipperlin hat sich vom Werk des spätgotischen Malers Hieronymus Bosch inspirieren lassen – die Bühnenbilder sind poetisch, aber auch mystisch und düster. Ob man die Vorstellungen mit Kindern besucht, sollte sich jede Familie überlegen.
Doch auch Humor spielt eine große Rolle. Ein Ballettduo macht den „Schwarzen Schwan“ zur Wrestlingeinlage, die zierlichen Tänzerinnen hauen sich mit Bud-Spencer-Geräuschen. Diabolo-Jongleur Tom Lacoste zeigt seine Tricks ebenfalls mit Tonbegleitung, jedes Zucken von Seil, Stäben, Diabolo oder seinen Körperteilen wird von Knirschen und Knacken begleitet. Körper und Kunst als ewige Baustelle. Magier Winston Fuenmayor verpackt seine Tricks in die charmante Kunst des Scheiterns.
Die geniale Clownin Noémie Pichereau trägt die Geschichte: Mit naivem Blick und Neugier erkundet sie das „Paraiso“, in dem es viele seltsame Wesen und Gerätschaften gibt. Von der Decke schwebt eine Art Kronleuchter, der an einem Blütenkelch erinnert, die Hörner von Grammophonen sind Elemente, die immer wieder auftauchen.
Am eindrücklichsten ist aber die Musik des ukrainischen Komponisten Sergej Sweschinski, der die Premiere selber am Kontrabass begleitete. Geige, Akkordeon, immer wieder große Trommeln und vor allem der Gesang von Anja Krips entführen das Publikum in eine fremde, eigentümliche Welt. „Die Lieder sind in einer Kunstsprache geschrieben“, enthüllt Krips am Ende. Was alle erleichtern wird, die über Esperanto, Slowenisch oder afrikanische Dialekte gemutmaßt hatten.
Weltklasseartistik gibt es auch zu sehen – am Seil und am Cyr-Rad präsentiert Alexis Hedrick aus den USA ihre Kunst, Alexander Mitin zeigt Kontorsion auf außergewöhnlichem Niveau – und macht so viele Überschläge auf einem Tisch, dass das Publikum fast ausrastet. Doch die Lieblingsfigur der Menschen im Zelt ist eindeutig der kleine Mann ohne Kopf, der in einem klobigen Wintermantel steckt, sich mit tapsigen Schritten durch das „Paraiso“ bewegt. Annika Hemmerling hat dieses anrührende Wesen erfunden, dem die Sympathien nur so zufliegen.
Am Ende gibt es übrigens eine Krone für alle Artistinnen und Artisten, so viel Harmonie muss sein im Paradies. Und natürlich „Stufe-3-Applaus“ – lang anhaltend, im Stehen. Denn diese Show berührt die Herzen.