Ein wichtiger Motor für Wandel und Erneuerung und Voraussetzung für die Qualität sind dabei die Studiengänge für Pop und Jazz der Musikhochschule Hannover. Zum Tragen kommt dabei, dass dort nicht nur Virtuosität und Produktionstechnik gelehrt wird, sondern Absolventinnen und Absolventen der Raum gegeben wird, die eigentlich Essenz von Pop zu entwickeln: Das Sagenswerte zur Zeit so mit Musik zu sagen, dass das Publikum es hören will – und Konzerttickets kauft.
Diese Newcomer-Liste stellt keine Charts nach objektiven Maßstäben dar. Sie ist kein Streaming-Wettbewerb, sondern ein Countdown von persönlichen Lieblingsliedern des Autors.
20 Remote Bondage: „Vulvarine“Die hannoversche Bassistin Louise Peyk spielt eine Hauptrolle beim Punk-Rock-Sound. „Vulvarine“ ist eine feministische Anleitung zum (sexuellen) Glücklichsein. Tipp: Wer „Remote Bondage“ im Internet sucht, löscht danach die Browser-History, sonst zeigt die Suchmaschine „exotische“ Werbung.
19 Steintor Herrenchor: „Eine Woche“Neue Neue Deutsche Welle mit Post Punk und Synth-Wave. Aggressive Sanftmütigkeit und dringliche Zögerlichkeit verdichtet im Zeitgeist-Nachbrenner. Und was für ein Bandname!
18 The Planetoids: „Back in Time“Die Planetoids waren 2023 schwer beschäftigt. Bilanz: Gelbe Bühnen-outfits, ein Remix-Album über aerodynamische Kühe, eine EP mit der südafrikanischen Sängerin Namakau Star und eigene neue Songs. „Back in Time“ klingt so, wie der Titel es verheißt – und doch zukünftig.
17 Sobi: „Talitha, Wake Up“Sobi arbeitet neuerdings mit der Berliner Produzentin Charlie McClean zusammen (vorher: Silbermond-Produzent Helge Preuß). In ihren Songs weht frischer, aber immer noch schmeichelnd warmer Sommerwind. Das Album „Beloved Child“ erscheint im Februar, das Release-Konzert im Lux ist am 23. März (Karten gibt’s schon). „Talitha, Wake Up“ ist ein Appetizer.
16 Jonatan Morgenstern: „Rimski’s Piano“Nicht vergessen: Hannover ist auch immer noch eine Jazz-Stadt. Pianist Jonatan Morgenstern hat mit seinem Trio (Bass: Josh Ginsburg, USA, Drums: Diego Pinera, Uruguay) das Debüt-Album „Aguazul“ veröffentlicht. Anspieltipp: „Rimski’s Piano“.
15 Tillmann Bross: „Beautiful Failures“Der Sänger, Pianist und Gitarrist Tillmann Bross hat über die Jahre Songs geschrieben, mit denen er eigentlich nie etwas machen wollte. Im Frühjahr 2023 hat er gedrängt von Freunden das Balladen-Album „Songs Long Gone“ mehr oder weniger stillschweigend veröffentlicht. Ein Glücksfall wegen Perlen wie „Beautiful Failures“.
14 Tudo Azul: „Tico-Tico no Fubá“Der zweite Jazz-Song dieser Liste: Tudo Azul, die Band um Drummer Chris Witz und Sängerin Carolina Sulczinski, holt mit Brasil-Jazz einen Hauch von Ipanema an die Leine. Bester Einstieg in das famose Album ist die Tudo-Azul-Version des Genre-Klassikers „Tico-Tico no Fubá“.
13 Crewkid/Somervail: „Schoen“Crewkid (Mathias Müller) ist Rapper bei der Band Passepartout (siehe unten), hat aber mit Produzent Somervail nebenbei das Kurzalbum „Metaworse“ veröffentlicht. Die gewohnt scharfzüngigen Raps mischen sich mit Hip-Hop-untypischen Electro- und Dubstep-Sounds. So was wie „Schoen“ hatten wir aus Hannover noch nicht.
12 Isabelle Gebhardt: „Appletree“Isabelle Gebhardt liefert mit dem Album „Isabelle“ und Songs wie „Appletree“ den perfekten Soundtrack fürs Picknick im Georgengarten oder ein Kioskbier auf der Dornröschenbrücke. Die Songs kommen ohne gewollte Coolness aus, sind aber nicht uncool, sie sind schwerelos, aber nicht belanglos.
11 Ruben Dietze: „1000 Bar”Ruben Dietzes Album „Comfortzone“ ist technisch gesehen zwar „Electro“, klingt aber gar nicht so. Der Sänger, Komponist, Produzent und Klangsammler schreibt Songs, die mindestens bewegend oft sogar tanzbar sind und trotzdem Platz für Lyrik von urbaner Neo-Schlauheit lassen. Bester Album-Einstieg: „1000 Bar“.
10 Margarita & the Boys: „Part Of The Problem“Die, die Hannovers Ruf als Rockstadt erspielt haben, sind inzwischen alle „Ü 50“. Jetzt wird das Genre aufgemischt: Sängerin Margarita Luisa Maposse und ihre Band Margarita & the Boys definieren mit dem Album „Back to Bloom“, wie Rock aus Hannover 2024 sein kann: jung, feministisch, artikuliert, brillant, bunt, kantig, klischeefrei, mehr Power als Pose. Endlich!
9 Rabea: „Kingdom“Gitarre mit Gesang ist Singer-Songwriter-Standard. Rabea weicht davon ab und begleitet sich bei ihren Konzerten mit dem Cello. Erhabenheit! Dieser merkwürdig diffuse Begriff passt hier. Rabeas 2023er-Album „Kingdom“ und der gleichnamige Titelsong gehen Meilen tief und weit und bleiben dabei doch radikal intim.
8 Hertzcasper: „Die letzte Zigarette“Elo alias Hertzcasper ist eine der starken Stimmen in Hannovers aktuellem Soundtrack. Es gibt auf Streaming-Plattformen erst vier Songs – wie „Die letzte Zigarette“ – , aber noch kein Album. Trotzdem bemühen sich viele Bühnen der Stadt um Hertzcasper-Konzerte. Die Mischung aus Hip-Hop-, Soul- und Funk-Grooves mit Liedern über alles zwischen Kopf- und Herzschmerz ist eben kein Internet-, aber definitiv ein Bühnenphänomen.
7 Joules the Fox: „Salamano“„Salamano“ hört sich gar nicht so an, ist aber ein A-cappella-Song. Vielstimmig zwar, aber allein von Joules the Fox eingesungen (live geht das mit einer Loop-Station). Auf dem im Februar veröffentlichten Album „If Time Is“ gibt es außer einem Piano im Titelsong und ganz wenigen weiteren instrumentalen Tupfern überhaupt nur diese Stimme. Und die trägt. Richtig weit.
6 Passepartout: „Haus in Flammen“Hip-Hop plus Soul plus große Band mit Gebläse: Die Explosivität der Passepartout-Performances hat im Oktober erstmals im Capitol am Schwarzen Bären den Funken überspringen lassen – mit Songs wie „Haus in Flammen“. 2024 dann auf der Gilde-Parkbühne?
5 Michèl von Wussow: „Keine Angst vor der Zukunft“Michèl von Wussow ist Hannovers Pop-Sonntagskind. Für ihn gehen zurzeit Karrieretüren auf, bevor er anklopft: bei „Inas Nacht“, im „MoMa“ (Morgenmagazin), als Support von Johannes Oerding und Silbermond. Anfang Oktober ist sein Song „Keine Angst vor der Zukunft“ erschienen – und quasi über Nacht überfällt die Hamas Israel. Passt der Song da trotzdem noch ins Jahr? Ja, jetzt erst recht.
4 Ottolien: „Querfeldein“Jonas und Leonard Ottolien haben im Herbst ihr Album „Wir tun uns so gut weh” vorgelegt. Das passt musikalisch ganz gut in die aktuelle Deutschpoplandschaft, aber die Texte sind deutlich schlauer als genreüblich. Große Gefühle meisterhaft in kleine Worte verpackt. Eine emotionale „Querfeldein”-Wanderung.
3 Joy Bogat: „Raise my Glass“Nach der Babypause stehen im kommenden Jahr eine Deutschland-Tournee (23. März im Faust-Mephisto, Karten gibt’s schon) und das Debütalbum „Fabric of Dreams“ (8. März) an. Einige der wundervollen Neo-Soul-Songs sind schon zu hören – zum Beispiel „Raise my Glass“.
2 The Driftwood Orchestra: „Wilderness“Sänger und Gitarrist Stefan Püschel hat sich lange Zeit gelassen mit diesem Solo-Debüt: Im späten Herbst erschien nach der Premiere „Eat, Sleep, Die“ der Track „Wilderness“, und der ist für Hannover etwas Unerhörtes, der klingt so schön nach großer, weiter Welt. Der Song des Jahres aus Hannover?
1 Serpentin: „Innig“, „Herz geklaut“Niemand in der Stadt singt so brutal ehrlich über die zerklüftete Topografie seiner Gefühlswelt wie Serpentin (Johanna Kaiser) in der Ballade „Innig“. Bedrückend, verstörend – und ein musikalisches Meisterwerk. Aber nicht so typisch für das Serpentin-Repertoire. Dafür stehen eher Songs wie „Herz geklaut”. Auch düster, aber mit drückenden, schnellen Indie-Electro-Beats befreiend tanzbar. Die Konzerte sind immer ein Erlebnis – Newcomerin des Jahres in Hannover!