Ein kinderloses Ärztepaar, das 2007 zwei Praxen in Misburg aufgibt. „Wir haben ein Jahr durchgeatmet, sind gereist, haben Sport gemacht.“ Das sei schön und gut gewesen. „Aber man kann auch nicht dauernd auf dem Golfplatz stehen“, fand Udo Niedergerke. Das Paar, er Allgemeinmediziner, sie Gynäkologin, wollte etwas bewegen. Weil sie, die in Isernhagen ein Haus mit schönem Garten gebaut hatten, aus ihrem Arbeitsalltag in Misburg das pralle Leben kannten.
„Anders hätten wir es nicht gewollt“, sagt Ricarda Niedergerke. Misburg sei damals wie ein Dorf in der Großstadt gewesen, ein Mikrokosmos, in dem in den beiden Arztpraxen alle Bevölkerungsschichten aufeinandertrafen – „vom Vorstandsvorsitzenden bis zum Alkoholiker“, erinnert sich ihr Mann. „Und ich war für alle der Udo.“ Menschen, ganz egal welcher Gesellschafts- oder Einkommensschichten gleichzubehandeln, das war den beiden Medizinern im Job immer wichtig gewesen. Und es wurde zum Leitfaden ihrer Stiftungsarbeit.
Doch wo sollten sie sich engagieren? In Afrika, wo Hunger und Krankheit toben? In der Flüchtlingshilfe? Oder an der nächsten Straßenecke, wo Wohnungs- und Obdachlose Hilfe brauchen? „Es kann schnell gehen mit der Abwärtsspirale, wir haben das in unseren Praxen erlebt. Das Thema war uns nah“, erinnert sich die frühere Frauenärztin an Menschen mit gebrochenen Lebensläufen. „Wir sind dann sechs Wochen durch alle Notquartiere der Stadt gegangen. Wir waren schockiert“, erinnert sich Udo Niedergerke. „Aber was wir gesehen haben, hat uns auch motiviert“, setzt seine Frau hinzu.
Weihnachten 2008 war dann das Prozedere klar: Ricarda und Udo Niedergerke würden mit einer Treuhandstiftung unter das Dach der Bürgerstiftung schlüpfen. „So war der bürokratische Ballast weg“, erklärt der frühere Hausarzt. „Ich verstehe nichts von Finanzen. Wir wollten uns auf unsere Herzensangelegenheit konzentrieren.“ Seine Frau Ricarda spricht unverblümt aus, wie diese Aufgabe aussah: „Betteln gehen, an Türen klopfen, Klinken putzen.“
Doch zunächst brauchte man Startkapital. Über die Jahre hatte das Paar Kunst gesammelt, darunter Naive Malerei, Surrealismus, Werke von Otto Gleichmann, sogar eine Skulptur von Emil Nolde. Veit Görner, damals Direktor der Kestnergesellschaft, und Ulrich Krempel, früher Direktor des Sprengel Museums, führten zwei Auktionen durch, über die sogar die renommierte Kunstzeitschrift „Art“ berichtete. „Es kamen 80.000 Euro zusammen.“
Seitdem kamen mindestens 920.000 Euro dazu. Und viele Erkenntnisse. Dass Menschen auf der Straße Hilfe brauchen („Es gibt keine gesunden Obdachlosen“), dass sich unermüdliches Engagement lohnt („Wir gucken uns alle unsere Projekte an – das ist ein Teilzeitjob“), dass unbürokratisches Eingreifen Not lindert, dass nicht alle ihren Eifer teilen. „Es gab Enttäuschungen. Freunde mit ein paar Nullen auf dem Konto, die fanden, wir sollten diese Sachen doch dem Staat überlassen.“
Andere schätzten das Engagement der Niedergerkes: Eine ältere Dame, die zwei Goldbarren in Wert von 12.000 Euro vorbeibrachte. Ein Mensch, der die Stiftung in seinem Testament bedachte, weil er in jungen Jahren selber von Obdachlosigkeit betroffen war. Ein anonymer Spender, der seit Jahren jeden Monat 5 Euro überweist. „Wir freuen uns darüber genauso wie über große Summen“, betont Udo Niedergerke. „Jeder Euro fließt in Projekte.“
Die Niedergerkes arbeiteten seit 15 Jahren eng zusammen mit Caritas, Diakonie und Awo, sponsorten warme Jacken für die „Asphalt“-Austräger, unterstützten die Straßenambulanz, finanzierten Integrationskurse, machten mit der Wanderausstellung „Mein Hannover“ Obdachlose zu Straßenfotografen und öffneten so vielen Hannoveranern die Augen für das Schicksal dieser Menschen. Ihr nächstes großes Projekt ist eine Krankenwohnung in einem leer stehenden Gebäude der Lukaskirchengemeinde in Vahrenwald – hier sollen Obdachlose nach Entlassung aus einer Klinik Unterschlupf und Pflege bekommen. Denn: „Eine Wohnung ist das Wichtigste.“
„Hannover ist eine soziale Stadt“, finden beide. In den vergangenen Jahren habe sich viel getan, um die Situation von Obdachlosen zu verbessern. Doch das Paar ist auch zur Stelle, wenn ihre Zielgruppe an den Rand gedrängt wird. Wie in diesem Sommer am Raschplatz: „Nichts gegen die Spiel- und Sportangebote“, sagt Udo Niedergerke über das Projekt, das Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) dort initiiert hatte. Aber die Zahl der bis zu 300 Menschen, die zuvor täglich den Kontaktladen „Mecki“ aufgesucht hatten, reduzierte sich radikal innerhalb von wenigen Tagen – weil sie sich vom Sicherheitsdienst der Stadt beiseitegeschoben fühlten.
„Für Obdachlose ist ,Mecki’ aber ein Gefühl von Heimat“, sagt Ricarda Niedergerke. „Sie gehören nicht in die Drogen- und Crackszene, wurden aber dahin abgedrängt.“ Das Paar schlug Alarm, stellte innerhalb von wenigen Tagen Geld zur Verfügung, um den vom Raschplatz Verdrängten trotzdem eine Anlaufstelle zu bieten. „Wir sind unabhängig“, sieht die frühere Ärztin den Vorteil. „Wir sind in keiner Partei, können immer unsere Meinung sagen – und schnell handeln.“
Und sie ecken damit nicht an: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil war bei der Gründung der Stiftung 2008 als Oberbürgermeister Schirmherr der Stiftung – und hat das Amt behalten. Der aktuelle OB spracht am 4. September bei der Gala im GOP Grußworte. Ursula von der Leyen, heute Präsidentin der EU-Kommission, nannte das Paar mal liebevoll „Pfadfinder der Hilfe“.
Gutes zu tun, tut diesen beiden Menschen offenbar gut, die positive Energie lässt sie von innen strahlen. Und auch wenn das kinderlose Paar über das Alter nicht gerne redet, „über die Zeit machen wir uns Gedanken“, betont Udo Niedergerke. Was er meint: „Die Zeit nach uns.“ Dafür haben sie bei allem Optimismus und bei aller Lebensfreude die Weichen gestellt, einen Beirat berufen. Denn ihnen ist wichtig: „Die Stiftung bleibt.“