In der großen Halle mit den blauen Matten trainieren zwölf Polizistinnen und Polizisten, wie sie bei einem Messerangriff reagieren können. Es ist Tag zwei des Seminars „Vermeidung von Angriffen mit Messern oder scharfkantigen Gegenständen“ im Schulungszentrum der Polizeidirektion Hannover. Die meisten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind Streifenbeamte, einige kommen auch von der Verfügungseinheit. So wie die vier Trainerinnen und Trainer wollen sie ihren vollen Namen lieber nicht in den Medien lesen.
„Zehn Meter“, „fünf Meter“, „wenn ich mich unwohl fühle“. Die Frage nach der eigenen roten Linie hat Trainerin Ella den Teilnehmerinnen und Teilnehmern bereits am Tag zuvor gestellt. Über Nacht sollten sie über einen Angriff nachdenken: Wie nah darf ein Mensch mit Messer ihnen kommen. bis sie schießen?Auch wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Ende des Seminars andere Abstände nennen werden, eine Zahl prägt sich gleich zu Beginn ein: sieben Meter. Um sie zu überwinden brauche es in der Regel nur eine Sekunde, sagt Trainerin Ella. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sagen: Bei ihrer täglichen Arbeit sind sie meistens näher dran. Ella fasst es so zusammen: „Es ist eine lebensgefährliche Situation, wenn jemand mit dem Messer da steht und droht.“ Die Zahl der Messerangriffe ist in den vergangenen Jahren gestiegen, das zumindest geht aus der polizeilichen Kriminalstatistik hervor. Und wenn jemand tatsächlich mit einem Messer angreift, dann greift die Polizei auch zur Waffe. „Nicht schießen ist keine Option“, sagt Ella. Die eine Sekunde, die jemand benötige, um die sieben Meter zu überwinden, die brauche der Angegriffene überhaupt, um zu reagieren. Die Schrecksekunde. Doch die Polizei darf natürlich nicht einfach auf einen Menschen mit einem Messer schießen. Erst einmal müssen andere Mittel zum Einsatz kommen. „Die Stimme ist unsere erste Waffe“, sagt Ella. Auf den Matten bringen sich die Teilnehmenden in Stellung. Sie ziehen ihre Waffen und rufen, schreien fast: „Stopp, Polizei“. In Dreierteams trainieren sie auch, wie sie sich richtig hinstellen, sich gegenseitig schützen. „Und jetzt das Messer weglegen“, hallt es immer wieder durch die Halle. Nicht „wegwerfen“, das könnte andere Menschen gefährden.„Niedersprechen“, nennen sie das. Freundliche und beruhigende Ansprache? Nein. „Der steht da und bedroht mich“, sagt Ella und deutet auf einen Teilnehmer, der das Plastikmesser vor den Körper streckt. Da helfe kein liebes Sprechen, und noch ein anderer Aspekt ist ihr wichtig. „Wenn ich schreie, baue ich bei mir erst mal Stress ab.“ Viele auch erfahrene Beamte kämen in solchen Situationen ins Stottern. Und auch die Angreifenden stünden unter enormem Stress. Das Ziel: Einfache Kommunikation, die auch das Gegenüber schnell versteht.
„Die tatsächliche Erfahrung, dass es Messer gibt, haben wir jeden Tag“, sagt Trainer Felix. Gerade in der Drogenszene und unter Jugendlichen sei das verbreitet. Schon eine abgebrochene Flasche könne gefährlich werden. Meistens, so sagen es die Trainerinnen und Trainer, ginge das gut aus. und damit beschäftigten die Vorfälle meist gar nicht die Öffentlichkeit. Nach Auskunft des Innenministeriums komme es in Niedersachsen äußerst selten vor, dass die Polizei auf Menschen schieße: Landesweit habe es in den Jahren 2021 und 2022 jeweils zwei Fälle gegeben.
Doch erst im Mai dieses Jahres hat ein Polizeibeamter mehrere Schüsse auf einen Bewohner der Unterkunft Alt-Vinnhorst abgegeben. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren wegen versuchten Totschlags gegen den Beamten mittlerweile eingestellt. Sie geht von Notwehr aus. Auch der Bewohner soll zwei Messer in der Hand gehabt haben, auf den Beamten zugelaufen sein, bis sie noch zwei bis maximal dreieinhalb Meter trennten.
Das sei natürlich Gesprächsthema unter den Beamtinnen und Beamten, sagt Felix. Doch was kann die Polizei machen, wenn einer nicht das Messer weglegt, wenn er weiter auf die Beamtinnen und Beamten zuläuft? Selbst weglaufen sei für die Polizei keine Option. Bei Pfefferspray liefen die Beamtinnen und Beamten selbst Gefahr, sich zu verletzten. Taser dürfen sie in Niedersachsen nicht einsetzen. Doch die Trainer betonen auch: „Kein Polizist schießt gern.“
Gewaltanwendung? Darauf sei niemand „geil“. In einer der Theorieeinheiten fragt Ella, wer in der Kindheit und Jugend Erfahrungen mit Gewalt gemacht habe. Nur ganz wenige heben zögerlich die Hand. Auch Louisa hat nicht die Hand gehoben. Über ihren Alltag im Streifendienst aber sagt sie: „Es kommt schon sehr häufig vor.“
Die Trainer zeigen ein Video. Es kursiert häufiger nach Messerattacken im Netz. Darauf zu sehen ist eine Auseinandersetzung zwischen mehreren jungen Männern, einer von ihnen hält ein Messer in der Hand. Nur ein kleiner, kaum merklicher Hieb in Richtung des Halses eines anderen jungen Mannes. Der braucht einen Moment, fasst sich an den Hals, beginnt zu torkeln und fällt zu Boden. Jede Hilfe sei für ihn zu spät gekommen, sagt Ella. Nach einem Angriff sollten sich Polizistinnen und Polizisten unbedingt selbst untersuchen. Ein Messerstich fühle sich erst einmal an wie ein Schlag. „Ihr merkt nicht, wenn ihr einblutet.“
Auch wenn auf den blauen Matten so mancher hollywoodreif zu Boden geht, will Ella mit weiteren landläufigen Vorstellungen aufräumen. Zielen mit wenig Abstand? Unmöglich, sagt Ella. „Es ist nicht wie im Film, wo Menschen durch die Energie eines Schusses nach hinten fallen.“ Es brauche in der Regel mehrere Schüsse, um den Angreifer handlungsunfähig zu machen. „Adrenalin macht es möglich“, sagt die Trainerin.
Wenn die Herzfrequenz steigt, verschlechtere sich die Feinmotorik, es träten beispielsweise Wortfindungsschwierigkeiten auf. Bei einem Puls von 115 bis 145 Schlägen befinde man sich im optimalen „Überlebens- und Kampflevel“ und kann seine Fähigkeiten voll ausnutzen. Ab 145 Schlägen würden die komplexen Fähigkeiten eingeschränkt. Ein Beispiel: Tunnelblick.
Wie der Puls steigen kann, erfahren die Teilnehmenden in einem simulierten Raum aus Absperrgittern und -planen. Ein Tuch wird ihnen vom Kopf genommen, ein Vermummter greift mit Plastikmesser an. Danach nickt Ella, vielen dröhne der Kopf, die Beine und Hände zitterten, die Stimme sei schwach. Die Schüsse knallen laut, die Waffen sind schließlich mit Farbmunition geladen. Doch am Ende kann keiner mehr wirklich einschätzen, wie viele Schüsse er oder sie abgegeben hat.
Bei der letzten Übung raschelt es hinter den Planen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nähern sich in Zweierteams über einen langen Flur mit gezückten Waffen. Plötzlich schreit ein Angreifer „Ich stech Euch ab, ihr Scheißbullen“ und läuft mit einem Plastikmesser in der Hand auf die Polizistinnen und Polizisten zu. „Ihr entscheidet, ab wann Eure rote Linie überschritten ist“, das hat Trainerin Ella den Teilnehmenden am Tag zuvor mit auf den Weg gegeben. Die Abstände, die die Teilnehmenden genannt haben, werden sie bei dieser Übung alle unterschreiten.