Der neunjährige Junge sei völlig ausgerastet und habe sogar Mobiliar zerstört, schildert der Vater weiter. Es ist die Rede davon, dass das Kind mehrere Türen aus den Angeln gehoben und die Einbauküche beschädigt habe. Der Mann möchte aber scheinbar nicht, dass Nachbarn etwas von dem Polizeieinsatz in seiner Wohnung mitbekommen: Er bittet die Polizistin um Diskretion – der angeforderte Streifenwagen solle ohne Blaulicht und Martinshorn vorfahren.
Wie oft sich überforderte Eltern über die Notrufleitung an die Polizei wenden, lässt sich nicht exakt nachvollziehen – häufig gibt es für diese Art von Anrufen keine Einsatzprotokolle. „Das ist immer dann der Fall, wenn ein polizeiliches Einschreiten vor Ort nicht erforderlich ist“, sagt der Leiter der LFZ, André Schmidt.Im April 2023 gingen in der Lage- und Führungszentrale insgesamt etwa 20.000 Notrufe ein. 17-mal forderten Mütter oder Väter Hilfe an, weil ihre Kinder randalierten oder auf die Eltern losgingen. In der Regel handelte es sich um 13-, 14- oder 15-Jährige, die ausgerastet sind und die Polizei tatsächlich auch anrückte, weil es körperliche Übergriffe oder andere Straftaten gab.
Quasi unter dem Radar laufen zusätzlich die Fälle, die in keiner Statistik auftauchen, weil es vor Ort keine wirkliche polizeiliche Lage gibt. „Es sind die Notrufe, wo Mädchen und Jungen im Kindesalter von Mutter oder Vater nicht gebändigt werden können“, berichtet Patrick Seegers, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) in Niedersachsen. So berichteten Kollegen von einer Mutter, die mit ihrer Fünfjährigen nicht mehr zurechtkam: Die Kleine warf Gegenstände durch die Wohnung, deshalb sollte auf Wunsch der Frau die Polizei erscheinen. Wie auch in dem Fall führen oftmals nichtige Anlässe zur Eskalation in der Familie, weiß Seegers: „Zum Beispiel der Streit um einen Joghurt.“
Wütende Kinder stellen in der Regel kein Einsatz für die Polizei dar, betont Seegers: „Die Polizei ist nicht dazu da, die Erziehung von Kindern zu übernehmen. Das kann nicht unsere Aufgabe sein. Wir sind auch keine Psychologen oder Sozialarbeiter.“ Gefährlich werde es zudem, wenn überforderte Eltern „den Notruf blockieren und Menschen, die tatsächlich die Hilfe der Polizei benötigen, nicht durchkommen“, warnt der DPolG-Chef.
Wer braucht eigentlich Hilfe, wenn kleine Mädchen und Jungen so durchdrehen, dass die Polizei kommen soll? Die Kinder? Mutter oder Vater? „Die Eltern. Eindeutig“, sagt Uwe Brandes, Leiter des Winnicott-Instituts. Das Problem sei, dass diese Eltern ihren Kindern keine Rahmen mehr setzen. „Das tun sie nicht, weil sie fürchten, dass ihre Kinder dann sauer auf sie sind“, erklärt der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Problematisch sei es immer dann, wenn Mutter und Vater keine Eltern mehr sein wollen, sondern Freund oder Freundin des eigenen Nachwuchses.
Dabei wollen Kinder Grenzen, so Brandes: „Sie brauchen einen Rahmen, der ihnen Halt und Orientierung gibt.“ Der Fachmann rät überforderten Eltern, nicht den Notruf der Polizei zu wählen, sondern sich Hilfe beim Kommunalen Sozialdienst der Landeshauptstadt Hannover zu holen. Dort gibt es bestimmte Programme. Eines davon heißt „Starke Eltern, starke Kinder.“
Im Fall des neunjährigen Jungen aus der Region, der angefangen hatte, die elterliche Wohnung zu zerlegen, beruhigte sich das Kind mehr und mehr, während der Vater mit der Notruf-Beamtin telefonierte. Schließlich entschied der Mann, dass doch keine Streifenwagenbesatzung mehr nötig sei, um seinen Sohn zur Ordnung zu rufen.
Die Polizistin gab dem Vater dann noch den Hinweis, dass er am kommenden Tag die Dienststelle in seinem Wohnort aufsuchen könnte, falls es weiteren Klärungsbedarf gibt. Gab es offenbar nicht: Weder Mann noch Kind sind nach bisherigen Erkenntnissen persönlich in der örtlichen Wache aufgetaucht.