Wie schwer es ist, sich als Mensch, der im Rollstuhl sitzt, wirklich modebewusst zu kleiden, weiß Ann-Sophie Schälicke selbst nur zu gut. Sie ist an Muskeldystrophie erkrankt und in ihren Bewegungen stark eingeschränkt. Es gebe nur wenige Labels, die auch Mode für Menschen mit Behinderungen machen, kritisiert sie. „Das ist nicht im Fokus und oft eher praktisch, meist unisex, aber nicht schön gedacht“, weiß Schälicke. „Doch nur weil ich im Rollstuhl sitze, möchte ich meinen eigenen Stil entwickeln, mich auch mal feminin, elegant oder auch extravagant kleiden können, wenn ich Lust dazu habe. Das ist menschlich!“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Es gibt mehr Kollektionen für Hunde als für Menschen mit Behinderung.“
Während ihres Designstudiums hat sie sich daher intensiv mit dem Thema beschäftigt, viel experimentiert und ausprobiert. Ihre Abschlusskollektion „Spotlight“ ist der inklusiven Zukunft gewidmet. Das Faszinierende: Auf den ersten Blick sieht die Kleidung modisch futuristisch, aber eigentlich ganz „normal“ aus. So soll es ja auch sein: Ann-Sophie Schälicke will Mode schaffen, bei der nicht gleich erkennbar ist, was sie besonders macht, die aber dennoch besonderen Bedürfnissen gerecht wird.
So gibt es in ihrer Kollektion einen Mantel, bei dem sich das hintere untere Rückenteil über magnetische Druckknöpfe abnehmen lässt, damit man als Rollstuhlfahrer nicht auf Stoffwülsten sitzen muss. Der Minirock ist eher wie eine L-Form geschnitten, damit er im Sitzen gerade bündig an den Knien abschließt und sich nicht durch den Po nach hinten zieht. Die Rocktaschen sitzen nicht oben am Bund, sondern tiefer, damit man sie im Sitzen gut erreichen kann. Die Hose hat leicht verschobene Nähte, damit sie beim Sitzen nicht stören. Es gibt Shirts, deren Stoff nicht nur metallisch edel glitzert, sondern auch eine antibakterielle, beruhigende Wirkung bei empfindlicher Haut hat.Andere Oberteile haben magnetische Knopfleisten in der vorderen und hinteren Mitte, damit Menschen, die ihre Arme nicht so frei bewegen können, leichter in beide Seiten hineinschlüpfen können, bevor sie die Mitte schließen. Die kurze Crop-Winterjacke – für Rollstuhlfahrer und -fahrerinnen ist es angenehmer, wenn die Jacke über der Hüfte abschließt – hat einen magnetischen Reißverschluss. „Ich kann mit meinen Händen nicht so gut diese filigrane Einfädelung der Reißverschlussenden leisten – hier ziehen sie sich dank des Magnetismus an“, sagt die Designerin und fügt hinzu: „Aber auch meine Mutter ist begeistert von dem Reißverschluss, der sich wie von selbst einfädelt.“
„Stop staring, start caring“ – höre auf zu starren, fang an, dich zu kümmern, steht auf einem Shirt. Ganz bewusst hat sie diese Statement-Shirts in ihre Kollektion aufgenommen. „Barrieren sind überall, Menschlichkeit ist die Lösung“, sagt Schälicke. In Deutschland sei da noch viel Luft nach oben. Wie oft hat sie bereits dem Bus hinterhergeschaut, weil keine Behindertenrampen ausgefahren wurden und keiner ihr hineingeholfen hat – „aus versicherungstechnischen Gründen“, erklärt sie kopfschüttelnd.Nicht zu helfen ist die eine Sache, Barrieren gibt es aber auch in den Köpfen vieler Menschen: Wie oft werde sie unterschätzt, würden Ideen oder Vorhaben von ihr erst mal abgelehnt, erzählt sie. Als sie beispielsweise die Ausbildung zur Maßschneiderin anstrebte, sei die Handwerkskammer sehr kritisch gewesen, wollte sie erst nicht zulassen. „Ich muss für alles kämpfen, als Mensch mit Behinderung wird man nicht gleichbehandelt“, sagt die junge Frau, die zum Glück neben ihrem Kämpfergeist auch eine gute Portion unerschütterlichen Optimismus besitzt: „Wie oft höre ich, das kann sie sowieso nicht, wie soll das gehen? Statt einfach zu schauen, was möglich ist!“
Durch ihre Einschränkungen habe sie schon ihr Leben lang kreativ sein müssen. „Geht nicht, gibt es nicht. Mein Motto ist, dass es für alles eine Lösung gibt.“ Abitur hat sie am Kaiser-Wilhelm-und-Ratsgymnasium gemacht – eine der wenigen Schulen in Hannover, die für sie als Rollstuhlfahrerin überhaupt geeignet waren. Bei der Modeschule Famoda hat sie nach einer Probewoche überzeugen können, dass das Studium für sie doch machbar ist: „Auch ich musste schauen, wie ich mich anpassen kann.“ Ihre Nähmaschine ist für ihre Bedürfnisse umgebaut, unterstützt wurde sie im Studium von einer Schulassistentin, auch ihre Dozenten hätten ihr sehr geholfen.
Ganz bewusst hat sie ihre Kollektion „Spotlight“ genannt. Spotlight, weil sie das Thema mehr ins Licht gerückt wissen will, die Gesellschaft soll sich mehr Gedanken darüber machen, flexibler im Handeln und Denken werden: „Für mich bedeutet der Rollstuhl keine Fessel, sondern Freiheit. Mit ihm kann ich mich fortbewegen. Es wäre schön, wenn es einfach so gesehen würde – die Brille wird ja auch nicht mehr wie früher mal als Hilfsmittel wahrgenommen, sondern ist heute ein Trendpiece.“
So ist ihre Mode auch cool, sportlich bis extravagant und vor allem sehr selbstbewusst – nicht nur mit den Statement-Shirts. Da sitzt eine junge Frau im Joggingoutfit im Rollstuhl, lässig ein Bein über die Lehne gelegt – das Bild ist ein Hingucker. Natürlich präsentieren Models mit Behinderungen ihre Kollektion. Sie zeigen, dass inklusive Mode keine Utopie sein muss. „Bei der Modenschau waren sie auch begeistert, wie leicht die Teile für sie an- und wieder auszuziehen sind – selbst unter Zeitdruck“, sieht sich Ann-Sophie Schälicke bestärkt.
Jetzt überlegt die 22-Jährige, ob sie ein weiteres Studium zur Modemanagerin anschließen soll. „Ich sehe mich in erster Linie als Designerin und will auch weiter in dem Bereich arbeiten, aber um ein Label zu managen, ist ein BWL-Hintergrund sinnvoll.“
Ann-Sophie Schälicke hofft natürlich, dass sich Firmen für ihre Ideen und ihre Kleidung interessieren und sie so viele Menschen erreichen wird: „Die Kollektion basiert auf dem Inklusionsgedanken und hat eine Ästhetik, die für alle Zielgruppen funktioniert.“