Dabei gilt es seit vielen Jahren als mindestens fragwürdig, ob es diesen einen Hauptweg überhaupt gibt und ob alle anderen Pfade in der Kunst eben nur Neben- oder Abwege oder gar Sackgassen sind. Es ist ein komplexes Netzwerk, das die Moderne kennzeichnet, und es gibt nicht nur den einen Weg, wie den, der nach 1945 schnell Eingang in die Kunstgeschichtsbücher gefunden hat und zementiert wurde.
Schon in den ersten Wochen nach der Neueröffnung sich in der eigenen Position zu relativieren, spricht für das Sprengel Museum. Denn die jetzt eröffnete Ausstellung fragt neugierig „Welche Moderne?“ und will damit den Kanon der etablierten Stilrichtungen überprüfen. Es geht darum, was alles nicht in Museen gezeigt wird. Dazu gehört ganz wesentlich die naive Malerei. Die neue Ausstellung in Hannover beschäftigt sich nun mit diesem Versäumnis, sie zeigt, wie eine kleine Gruppe von Künstlern als unakademisch und deswegen naiv gebrandmarkt wurde.
In Paris gab es 1937 eine damals viel beachtete erste große Überblicksschau mit der als „naiv“ etikettierten Kunst, die gleich im ersten Raum der Schau ihren Widerhall findet. Am bekanntesten ist sicher der Autodidakt Henri Rousseau, der unter seinem Beinamen „Der Zöllner“ firmiert. Sein Brotberuf war die Arbeit in der Pariser Zollbehörde. Es war nicht nur Picasso, der sich für den „Zöllner“ und dessen Werk interessierte. Auch Max Beckmann zitierte Rousseau in seinen Bildern.
Leider hängt das Rousseau-Bild, das so wirkungsmächtig war, nur als Reproduktion in der Ausstellung, deren Prinzip es ist, bislang fein Getrenntes, nämlich Hochkunst und naive Kunst, zusammen zu zeigen. „Die Mexikanerin“ von Christian Schad, ein Porträt-Bild der Neuen Sachlichkeit aus dem Aschaffenburger Museum, hängt jetzt neben dem hannoverschen Gegenstück von Christian Schad und zwischen beiden prunkt ein Werk des Naiven Camille Bombois. Das passt perfekt und irritiert nachhaltig.
Die Ausstellung ist ein Fest des Sehens, sie möchte irritieren und sie fragt damit, ob alles gleichwertig ist. Camille Bombois, der seinen Lebensunterhalt als Ringkämpfer und Gewichtheber auf Jahrmärkten verdiente und später auf dem Bau arbeitete, wie auch Séraphine Louis, die Blumenmalerin, die in der Psychiatrie endete, und auch Adolf Dietrich sind vergessene Größen der Zeit. Auch Adalbert Trillhaase und André Bauchant, der Gärtner war, gehören dazu.
Aber viele der in der Ausstellung behaupteten Einflüsse lassen sich nur vermuten, nicht belegen. Das irritiert die Ausstellungsmacher allerdings nicht. Fernand Léger, Chagall oder Henri Laurens werden neben den Arbeiten naiver Kunst gezeigt, als gäbe es einen unbestreitbaren Zusammenhang, es gilt hier also der optische Beweis. Was ähnlich aussieht, muss auch irgendwie zusammenhängen. Das ist gefährlich, weil so einem neuen Mythos des bloßen Sehens das Wort geredet wird. Gleichsam eine naive Haltung der Ausstellungsmacher, als könnte sich das Auge nicht täuschen.
Der Kunsthistoriker Veit Loers nannte die Kunst der naiven und deswegen als Outsider geltenden Künstler den „Schatten der Avantgarde“, der Tiefe und Kontrast bringt, aber nicht selber schon Avantgarde ist. Das könnte eine Antwort auf die Frage der Ausstellung „Welche Moderne?“ (läuft bis 17. September) sein, die leider nicht sichtbar wird. Nur durch Schatten kommt Tiefe, ohne ihn bleibt alles etwas zu flach. Trotzdem ist die Ausstellung ein Fest des Sehens. Allerdings eben ohne Schatten.