Für das, was ich als Teenager erlebt habe, kursiert heutzutage im Internet ein Begriff: Social Burn-out. Betroffene fühlen sich nicht wegen des Jobs, sondern wegen der Freizeit überlastet. Der viele Kontakt zu Menschen erschöpft sie. Um eine offizielle medizinische Diagnose handelt es sich beim sozialen Burn-out nicht. Zwar ist das Burn-out-Syndrom im ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) aufgeführt, das Ärztinnen, Ärzten, Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen als Grundlage für ihre Diagnosen nutzen. Zu den Symptomen eines Burn-out-Syndroms zählen demnach Energiemangel, Zynismus und das Gefühl, nicht genug zu leisten. Allerdings endet die Definition mit dem Satz: „Burn-out bezieht sich speziell auf Phänomene im beruflichen Kontext und sollte nicht zur Beschreibung von Erfahrungen in anderen Lebensbereichen verwendet werden.“
„Selbstverständlich kann ein ‚Ausgebranntsein‘ auch im privaten Kontext entstehen. Diese Symptomatik würde man im klinischen Sinne jedoch nicht als Burn-out, sondern vielmehr als Probleme bezogen auf bestimmte Lebenskontexte ansehen“, erklärt die Psychotherapeutin Anke Pielsticker. Dass durch den Begriff soziales Burn-out das Burn-out-Syndrom aus dem Bereich Beruf auf die Freizeit übertragen wird, hält die stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung für „unpassend“.
Auch der Psychotherapeut Benedikt Waldherr steht dem Begriff kritisch gegenüber: „Ich bin generell ein Gegner von zu vielen Diagnosen und von Selbstdiagnosen“, sagt der Vorsitzende des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten und fügt hinzu: „In manchen sozialen Netzwerken kann es sogar schick oder bedeutungssteigernd sein, auszubrennen oder psychische Probleme zu haben.“ Das sei ein Nebeneffekt der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen. Einige Menschen nutzten Diagnosen – auch selbst im Internet recherchierte –, um zu erklären, warum sie manche Anforderungen des täglichen Lebens nicht so hinbekommen, wie sie es gern wollen – oder um den Versuch auch gleich ganz sein lassen. „Ich will jetzt aber kein Drückebergersyndrom erfinden. Das wäre der nächste Fehler“, wirft der Psychotherapeut ein.
Wer von Termin zu Termin hetzt, sollte über die Gründe für dieses Verhalten nachdenken. „Ich habe den Eindruck, manche Menschen mit vielen Sozialkontakten machen das, um sich von anderen Dingen abzulenken“, sagt Waldherr, „aber man sollte sich vielleicht auch mal trauen, ein schwieriges Gefühl zu ertragen und selbst zu erforschen.“ Grundsätzlich sei jeder Mensch gut damit beraten, auf die eigenen Grenzen zu achten – im Berufsleben genauso wie im Privaten. Ob eine psychische Erkrankung vorliegt und wie schlimm sie ist, müssten Psychiater, Psychiaterinnen, Psychotherapeutinnen oder Psychotherapeuten feststellen. Diese Fachpersonen können im nächsten Schritt dann beim Gesundwerden helfen.
Wie verbreitet es ist, sich sozial ausgebrannt zu fühlen, dazu hat noch niemand Zahlen erhoben. Ich frage meine 370 Follower bei Instagram, ob sie Erfahrungen mit dem Thema haben. „Mit mehreren Kindern hat man manchmal zu viele soziale Termine und Verpflichtungen, finde ich“, schreibt jemand. „Ich habe das Gefühl beim Dating. Ständig soll man Zeit haben – das stresst mich“, antwortet eine andere Person. Jemand Drittes erzählt von Phasen, in denen Whatsapp-Nachrichten lange unbeantwortet bleiben: „Ich habe dann das Gefühl, dass es mir gerade zu viel ist. Ich brauche einen kleinen Social Detox, und nach ein paar Wochen geht es wieder.“
Wer in seiner Freizeit von Termin zu Termin hetzt, kann dafür also ganz verschiedene Gründe haben. Manche fühlen sich durch ihre Kinder dazu verpflichtet. Andere haben Angst, dass das Gegenüber eine Absage persönlich nehmen könnte. Einige mögen nicht allein sein. Und bei ein paar Menschen handelt es sich wahrscheinlich um eine extreme Form der „Fear of missing out“, kurz Fomo. Diese Menschen haben Angst, etwas zu verpassen.
Einige meiner Follower haben Strategien gegen Freizeitstress für sich entdeckt. Sozial ausgebrannt fühle sie sich, wenn sie ihren „Gammeltag“ am Wochenende nicht einhalte, schreibt jemand. Eine andere Person berichtet davon, sich nach jedem Termin mit Menschen, die sie besonders anstrengend findet, einen freien Tag zur Erholung zu gönnen. Ich selbst verabrede mich nur noch maximal jeden zweiten Tag. Mich zwischendurch mit einem Buch auf die Couch zu fläzen hilft mir, ausgeglichen zu sein. Außerdem freue ich mich seitdem meist auf Verabredungen – und hake sie nicht einfach auf der inneren To-do-Liste ab.
Was vorbeugend gegen ein soziales Burn-out helfen kann, beschreibt die klinische Psychologin Amelia Aldao auf der Onlineplattform „Psychology Today“. Ihre Strategien basieren auf der kognitiven Verhaltenstherapie.
■ Priorisieren: Ihren Patientinnen und Patienten rät Aldao, all ihre Aktivitäten und Aufgaben aufzulisten. Danach sollen sie sie in die Kategorien „Muss ich machen“, „Wäre schön, wenn es klappt“ und „Total anstrengend“ einordnen. „Ziel ist es, die meisten Dinge aus diesen Kategorien zu erledigen, erklärt die Psychologin. Wohlgemerkt, die meisten und nicht alle. Denn es sei normal, dass nicht immer alles klappt. Zu selbstkritisch mit sich zu sein führe in eine Abwärtsspirale.■ Kalender führen: Wer nur von Woche zu Woche schaut, kann den Eindruck gewinnen, dass es nur die nächsten Tage stressig wird – und übersieht, wenn auch im kommenden Monat kaum Zeit zum Entspannen bleibt. Aldao rät, neben Ereignissen und Aufgaben auch Zeitpuffer und freie Tage im Kalender einzutragen. „Eine realistische Zeitplanung und Pausen sind der Schlüssel, um einem Burn-out vorzubeugen“, schreibt sie.■ Erwartungen dämpfen: „Nicht jedes Event wird extrem interessant sein“, gibt Psychologin Aldao zu bedenken. Es kann schon helfen, Kleinigkeiten zu ändern, zum Beispiel Verabredungen kürzer zu halten oder sich mit weniger Menschen gleichzeitig zu treffen. Und: Manchmal gefallen uns der Töpferkurs oder das Mittagessen in der Kantine mit dem sonst so ernst dreinblickenden Kollegen viel besser, als wir es erwartet hätten.