„Ich erinnere mich noch an den Aufschrei bei den Banken, als zunehmend Automaten eingeführt wurden“, sagt Lindauer. Viele Beschäftigte hätten befürchtet, durch die Automatisierung ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Doch noch heute, Jahre später, gebe es zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den Banken. „Jobs ändern sich. Das ist mit technologischem Fortschritt immer der Fall.“ Auch wenn manche Jobs schwinden würden, andere würden geschaffen.
Hinzu kommt, dass KI-Technologien viele Stunden händische Arbeit einsparen können. Auf den Zuckerrübenfeldern des Klosterguts Wiebrechtshausen bei Northeim zum Beispiel jäten Roboter Unkraut. Kamerabasierte Erkennungssysteme erfassen die Rübenpflanzen und entfernen unliebsames anderes Gewächs. Noch wird die Technologie in einer Studie des Unternehmens KWS in Zusammenarbeit mit der Universität Göttingen getestet, sie könnte laut dem Unternehmen aber schon in drei Jahren ihren Durchbruch erreichen und dann flächendeckend eingesetzt werden. Der Vorteil für die Landwirtschaft: Besonders im ökologischen Lebensmittelanbau fehlen oft Fach- und Saisonkräfte.
Wie Lindauer glaubt auch Oliver Giering nicht, dass KI flächendeckend ganze Jobs ersetzen wird. „Die Zusammenarbeit von Menschen und Technik wird rein technischen Systemen immer überlegen sein“, sagt der Soziologe von der Technischen Universität Berlin. Er berichtet von der Frey-and-Osborne-Studie von vor zehn Jahren. Bei der Studie haben amerikanische Forschende anhand von Experteneinschätzungen und Jobbeschreibungen die Automatisierung von Jobs untersucht. Das Ergebnis: Die Studie prognostizierte, dass innerhalb von zehn bis 20 Jahren 47 Prozent aller Jobs ersetzt würden. Diese Einschätzung löste damals erst mal Panik aus, zumal es wenige verlässliche Einschätzungen zu dieser Entwicklung gibt. Deshalb erfuhr die Studie viel Aufmerksamkeit und wird auch bis heute noch zitiert. Bewahrheitet habe sich die Prognose bislang jedoch nicht, sagt Giering.
Der Soziologe betont, dass es immer Dinge geben werde, die Menschen sehr gut beherrschten, Maschinen dafür nur schwer und umgekehrt. „Einen Ball zu fangen, das fällt uns sehr leicht, aber Maschinen fällt es noch immer sehr schwer. Gleichzeitig können Maschinen Dinge, die uns sehr schwerfallen“, sagt Giering. Eine Maschine könne innerhalb weniger Sekunden Tausende von Webseiten durchsuchen.
Auch heute schon wird KI in vielen Berufen eingesetzt – zum Teil sogar, ohne dass es den Arbeitenden bewusst ist. Das ist das Ergebnis einer Langzeitstudie, an der Giering mitgearbeitet hat. Viele Menschen denken bei künstlicher Intelligenz zunächst an herumfahrende Roboter, nicht aber an den Chatbot, der vielleicht schon das eigene Unternehmen beim Kundenservice unterstützt. Besonders in den Bereichen Werbung, Dienstleistungen und Kundenservice komme KI bereits zum Einsatz, sagt Giering.
Firmen in der Industrie und im Versicherungs- und Finanzwesen nutzten künstliche Intelligenz zudem zur Datenauswertung und Fehleranalyse. Informatik-Experte Lindauer sieht KI vor allem im Bereich Produktempfehlungen. Außerdem werde sie in der Logistik eingesetzt. „Die nächste große Sache ist, dass die Medizin immer mehr profitiert“, sagt Lindauer, zum Beispiel bei der Diagnose bestimmter Erkrankungen.
KI kann Prozesse erleichtern und verkürzen. Benötigt eine Versicherungskauffrau bestimmte Informationen über eine Kundin, die bereits seit 30 Jahren bei dem Unternehmen versichert ist, kann eine KI diese viel schneller zusammentragen als ein Mensch am Aktenschrank. Ob diese Technologien dazu führen, dass sich Arbeitstage verkürzen und auch Jobs erleichtern, die nicht am Schreibtisch erledigt werden, hängt aber nicht nur von der technischen Machbarkeit ab. Da sind sich der Soziologe und der Informatiker einig.
„Es ist eine normative Frage, wo man als Nächstes investiert, um Tätigkeiten zu ersetzen“, sagt Giering. „Man muss sich gesamtgesellschaftlich fragen, ob es nicht gut wäre, vor allem da Prozesse zu automatisieren, wo es prekäre Verhältnisse und schlechte Arbeitsbedingungen gibt.“ Aktuelle Debatten orientieren sich seiner Ansicht nach momentan zu sehr rein an der technischen Machbarkeit, dabei sei es eine aktive Entscheidung, in welchen Bereichen man KI in Zukunft fördere. Diese Entscheidung können Politik und Unternehmen treffen. Auch Lindauer sagt: „Wer letztlich von dieser Technologie am meisten profitiert, ist keine Frage der KI – sondern eine menschliche.“
Sogar die Gewerkschaften verschließen sich dem Thema nicht, sondern sehen Chancen. Mehrdad Payandeh ist optimistisch, was den Einsatz von KI angeht. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Niedersachsen sagt: „Uns werden stumpfe Tätigkeiten, die keinen Spaß machen, abgenommen, und wir können dafür sinnvolleren Tätigkeiten nachgehen.“ Auch Christoph Meinecke, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbände Niedersachsen (UVN), sieht eine Zunahme an Digitalisierung. Er sieht nicht, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze verdrängt. „Es entstehen neue Jobs und neue Bedarfe. Das Problem des Fachkräftemangels wird bleiben.“
Gewerkschafter Payandeh verweist auf eine Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen, laut der durch Transformation Arbeitsplätze wegfallen – aber auch neue geschaffen werden. „Die neuen Arbeitsplätze fußen zu 80 Prozent auf dem Wissen der vorangegangenen Jobs“, sagt der DGB-Vorsitzende. Das heißt, wenn eine Person ihren Job verliert, findet sie wahrscheinlich einen neuen, in dem sie ihr Wissen aus dem alten einsetzen kann. Sei die Qualifikation gesichert, müsse niemand Angst haben, dass ein Roboter ihn arbeitslos mache, sagt Payandeh. „Viel wahrscheinlicher ist es, dass Menschen mit Robotern zusammenarbeiten.“ Das ist heute schon beispielhaft zu sehen: Auch den Unkrautroboter muss ein Mensch in Betrieb nehmen und täglich kontrollieren.