In unserer modernen Welt aber wird den Jungtieren dieser Instinkt immer häufiger zum Verhängnis. Wenn sich landwirtschaftliche Erntemaschinen mit ihren 25 Meter breiten Auslegern durch das hohe Gras der Wiesen schneiden, dann ist Wegducken ein grausamer Fehler. Die Deutsche Wildtierstiftung schätzt, dass jährlich 100.000 Rehkitze durch Erntemaschinen getötet werden.
Ein Verein von hannoverschen Ehrenamtlichen hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, die Rehkitze regionsweit mit Hightecheinsatz zu schützen. Sie kooperieren mit den Landwirten, mit den Jägern und der Flugsicherung. Was sie antreibt, ist zweierlei: der Wille zum Tierschutz, aber auch der Spaß an Technik.
Sirrend steigt eine Drohne in den Himmel östlich von Hannover. Marc-André Gödeke vom Netzwerk Rehkitzrettung Hannover (RKRH) zeigt Interessierten bei einem Ortstermin, wie die Ortung und Rettung der frisch geborenen Tiere abläuft. Weil es eine Übung ist, findet sie während sonniger Tagesstunden statt. „Die Einsätze zur Rehkitzrettung sind natürlich immer frühmorgens“, sagt Gödeke. Erstens, weil die Landwirte früh anfangen. Zweitens, weil die Wärmebildkameras die etwa 38 Grad warmen Jungtiere besser orten können, wenn die Umgebung kalt ist – also nachts.
Zu tun gibt es reichlich: Durchschnittlich 250 Rehkitze hat der Verein bisher nach eigenen Angaben gerettet – pro Saison. Und die Saison ist kurz: Die Kitze werden Ende April, Anfang Mai geboren. Etwa zur gleichen Zeit startet auch die Mahd der Wiesen. Ab Ende Juni sind die Kitze stark und schnell genug zum Weglaufen, dann ändert sich ihr Instinkt. Es sind also zwei Monate, in denen Todesgefahr droht für sie.
Den Rettern spielt die ständig wachsende Technikqualität in die Hände. „Vor wenigen Jahren konnte man auf dem Monitor nur mit sehr geübtem Auge etwas erkennen“, sagt Gödeke: „Das hatte etwa die Qualität von Ultraschallbildern.“ Inzwischen seien die Bilder so detailgetreu, dass man „teilweise die Mäuse rennen sehen kann auf dem Feld“. Was auch nicht immer gut ist. Wenn irgendwo ein Feldhase gelegen hat, bevor ihn das Summen der Drohne aufgescheucht hat, dann bleibt die Kuhle im Gras etwa zehn Minuten lang so warm, dass der Wärmesensor der Drohne ihn erkennt. Das war dann ein Fehlalarm. Aber es gibt auch genug echte Alarme.
Winzig klein sind die Tiere kurz nach ihrer Geburt. Sie messen kaum 20 Zentimeter. Mit einem Kescher werden sie nach der Ortung festgesetzt und dann mit Handschuhen, möglichst unter Zuhilfenahme schützender Grashalme, vom Feld getragen. „Manchmal spielen sich dramatische Szenen ab, wenn etwa die Ricke zitternd am Feldrand steht und angstvoll beobachtet, was passiert“, sagt Drohnenpilot Walter.
Der Einsatz beginnt oft um 4 Uhr und ist – je nach Feldgröße – meist nach einer bis zwei Stunden beendet. Was aber motiviert die Ehrenamtlichen, am Feldrand zu arbeiten, während andere schlafen?
Bei Christian Walter ist es zunächst die Faszination des Fliegens gewesen. Er ist auch im Hauptberuf Drohnenpilot. Der 59-Jährige prüft Bauwerke auf Schäden und hat auf diesem Weg zur Rehkitzrettung gefunden. Der Vereinsvorsitzende Marc-André Gödeke (41) ist früher hobbymäßig ferngesteuerte Hubschrauber geflogen, engagiert sich aber parallel schon seit Jahren in einer Tierschutzstiftung. Und Jens Herrnberger (55), der im vergangenen Jahr Mitglied des Netzwerkvereins geworden ist, leitet seine Motivation historisch her. „Ich finde, dass wir alle eine Verantwortung haben“, sagt er: „Früher haben die Bauern mit der Sense gemäht, da hat der Schutz der Tiere von selbst funktioniert. Erst mit der Industrialisierung der Landwirtschaft ist dieses Problem gewachsen.“
Ausdrücklich aber will der Verein keine Vorwürfe verteilen, sondern praktisch helfen. „Wir alle profitieren von den Ergebnissen der Landwirtschaft. Da ist es doch toll, dass wir mithelfen können, sie mit unserem Engagement tierfreundlicher zu machen“, sagt Gödeke.
Die Landwirtinnen und Landwirte haben allerdings auch ein mehrfaches Interesse daran, dass der Tierschutz funktioniert. Erstens sind sie vor dem Gesetz verantwortlich dafür, dass möglichst wenige Jungtiere auf den Feldern in Gefahr geraten. Zweitens sind die meisten von ihnen selbst Tierschützer, denn ohne Liebe zur Natur hätten sie den Beruf wohl kaum ergriffen. Drittens aber gefährden Fleisch und Blut in der Wiesenmahd die Qualität der Silage. Es sind also sowohl juristische als auch moralische und wirtschaftliche Interessen, die zusammenkommen.
Etwa 20 Interessierte sind an diesem Tag zu der Vorführung und Übung nahe Seelze-Bolzum gekommen. Etwa Martina Fink (53) aus der List, die sich aus Tierschutzgründen interessiert, oder das Ehepaar Heike und Eckart Schlegel aus dem Warmbüchenviertel, die den Termin mit einer Radtour kombiniert haben.
Der Vereinsvorsitzende Gödeke und seine Mitstreiter hoffen, dass einige sich entscheiden, den Verein aktiv zu unterstützen. „Rehkitzrettung ist zeitaufwendig, die Alarmierung erfolgt oft erst am Vorabend“, sagt Gödeke: „Auf je mehr Schultern sich die Arbeit verteilt, desto einfacher für alle.“