Doch stattdessen war Spätsommer. Und Becker stand bei Karstadt, um Kleidung für die Beerdigung auszusuchen, inmitten von Menschen, die Jagd auf Badehosen aus dem Sommerschlussverkauf machten. In seiner Wut auf eine Welt, die sich einfach weiterdreht, während für ihn alles stillsteht, schreibt Becker einen Satz auf, der ihm damals grausam erscheint:
„Und es wird trotzdem wieder Sommer werden“, so steht es in krummer, gedrungener, Handschrift auf weißem Untergrund. Zu sehen ist diese Notiz auf Beckers Instagram-Profil. Unter dem Pseudonym „TschiefTschief“ veröffentlicht der 32-Jährige, der aus Braunschweig kommt und heute in Hannover lebt, seit etwa 13 Jahren kurze Texte im Internet. Früher habe er vor allem über die Liebe geschrieben, sagt Becker. Doch seit dem Tod seines Vaters sind auch Verlust, Panikattacken und Überforderung zentrale Themen. „Ich habe seitdem noch stärker das Bedürfnis, roh und direkt zu sein“, sagt Becker. Den Menschen im Internet gefällt das. Mittlerweile schauen ihm 107.000 Follower beim Fühlen zu.
Runde Brille, Silberohrring, blauer Nagellack und auf dem Oberarm ein Tattoo des „kleinen Maulwurf“. Becker spricht sanft und lacht viel – manchmal unsicher, oft über sich selbst. Er wirkt zart.
Dass sich der Künstler so offen zeigt, ist keine Selbstverständlichkeit, auch wenn es wie ein altes Klischee klingt. „Frauen fällt es im Schnitt viel leichter, über Gefühle zu sprechen, als Männern“, sagt Rolf Pohl. Der Soziologe und Sozialpsychologe lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Leibniz Universität Hannover. Ein Schwerpunkt seiner Forschung ist die Männlichkeits- und Geschlechterforschung. Pohl sagt: „Wir sind längst nicht so modern, wie wir glauben, auch wenn wir schon lange über veränderte Rollenbilder sprechen und geschlechterpolitisch viele Fortschritte erreicht haben.“
So zeigt eine Erhebung aus dem Jahr 2023, für die die Kinderrechtsorganisation Plan International 1000 Männer in Deutschland befragt hat: 71 Prozent der Befragten glauben, persönliche Probleme selbst lösen zu müssen, ohne um Hilfe zu bitten. Und die Hälfte der Teilnehmenden sagten, sie fühlten sich schwach und angreifbar, wenn sie anderen ihre Gefühle zeigten, es sei ihnen unangenehm.
Warum?Das hat laut Pohl mit Geschlechterrollen zu tun, die nach wie vor in unserer Gesellschaft verankert seien. „Viele sind – oft auch unbewusst – immer noch der Auffassung, dass ein Mann dominant, kontrolliert und erfolgreich sein muss“, sagt Pohl. Dass Männer wie Donald Trump oder Elon Musk derzeit so populär sind, ist laut Pohl ein klarer Indikator dafür, dass das klassische Männlichkeitsbild Konjunktur hat.
Dafür spricht auch Beckers Social-Media-Statistik: „Nur 13 Prozent meiner Follower sind Männer“ sagt der Künstler. In seinem Freundeskreis aus Jugendtagen sei es nicht üblich gewesen, über Trauer oder psychische Belastung zu sprechen. „Dabei weiß ich heute, dass einige von uns damit gekämpft haben. Uns früher auszutauschen, hätte sicher extrem geholfen.“
Dieser Meinung ist auch Experte Rolf Pohl. „Nicht über Gefühle zu sprechen, führt nicht dazu, dass sie verschwinden“, sagt er. Stattdessen fänden Männer häufig andere Wege, ihre Emotionen zu kanalisieren. „Das äußert sich beispielsweise in einer höheren Affinität zur Gewaltbereitschaft und einer größeren Anfälligkeit für Suchtkrankheiten.“
Zudem nehmen Männer seltener psychotherapeutische Hilfe in Anspruch und begehen häufiger Suizid als Frauen. Allein im Jahr 2023 nahmen sich in Deutschland über 10.000 Menschen das Leben – rund 73 Prozent waren Männer. „Auch das hat mit dem Ideal des starken Mannes zu tun“, sagt Pohl.
Doch wenn das klassische Männlichkeitsbild krank macht – warum schafft es sich nicht selbst ab? „Es verspricht Privilegien, allen voran Macht“, sagt Pohl. Gleichzeitig würden weiblich konnotierte Eigenschaften wie Fürsorge, Verbindung oder Verletzlichkeit gesellschaftlich weniger geschätzt und erschienen dadurch weniger erstrebenswert. Das müsse sich ändern, sagt Pohl: „Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Umdenken.“ Bei der Kindererziehung fange es an: „Jungen müssen lernen, dass es nicht wehtut, über Gefühle zu sprechen und was als Schwäche gilt, zuzulassen.“
Damit das gelingt, müssten sich auch die Erwachsenen ändern. Denn die seien wichtige Vorbilder. „Oft erkennen wir jedoch nicht, dass wir uns schädlich gegenüber uns selbst verhalten“, sagt Pohl.
Manchmal könne ein Impuls von außen helfen. Doch wer unverwundbar sein will, zieht oft Mauern hoch. Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr zu Partner oder Freund durchdringen zu können, empfiehlt der Experte ein gemeinsames Erlebnis: „Zum Beispiel Sport oder ein Ausflug. Das kann das Vertrauensverhältnis stärken.“
Gerade Eltern von Teenagern hätten häufig das Gefühl, ihre Kinder nicht mehr zu erreichen. „Jugendliche wenden sich neuen Vorbildern zu. Die Freundesgruppe gewinnt an Einfluss – und auch das Internet“, so der Experte.
Besorgt blicke er deshalb auf die „Manosphere“ – ein Netz von Communitys und Influencern, die traditionelle Geschlechterrollen und Frauenhass im Netz propagieren.
Auch Becker sieht die Gefahr, die davon ausgeht. Doch er glaubt daran, dass das Internet auch einen positiven Beitrag leisten kann: „Ich bekomme immer wieder Nachrichten von Männern, denen meine Texte helfen. Das macht Mut.“
Und dann hat der Künstler noch einen Tipp für alle, denen emotionale Offenheit schwerfällt: „Fragt erstmal nach, wie es eurem Gegenüber geht. Macht klar, dass ihr eine ernste Antwort erwartet. Oft passiert es, dass der andere sich öffnet und das kann helfen, von sich zu erzählen.“
Er selbst habe durch den Austausch mit anderen neuen Mut geschöpft, sagt der 32-Jährige. Er habe gelernt, auf die Wiederkehr des Guten zu vertrauen.
Becker steht in seinem Atelier in Hannover-Linden. Sonnenlicht fällt durchs Dachfenster. An einer der Wände hängt ein Poster. „Und es wird trotzdem wieder Sommer werden“, steht darauf, in großen, entschlossenen Blockbuchstaben.
Hinweis: Dieser Artikel behandelt die Themen Tod und Suizid. Bei akuter Belastung wenden Sie sich bitte an eine Vertrauensperson oder an professionelle Hilfe (Telefonseelsorge: 0800 1110111 / 0800 1110222).