Bei ihm wirkt es, als sei es kinderleicht. Zu Hause müsste man wahrscheinlich ein paar Mal auf den Pause-Button drücken, um die Funktion in der nächsten Matheklausur auch selbst ableiten zu können. Aber so ist es ja auch gedacht - denn Daniel Jung ist Bildungsinfluencer, Speaker, Podcaster und Autor.
Seit 2011 erklärt der 43-Jährige Mathematik bei YouTube, seit ein paar Jahren auch bei Tiktok. Er war einer der Ersten, die auf „Nugget“-Lernen setzten - also darauf, Wissen statt in stundenlangen Vorträgen in kleinen Dosen zu vermitteln und gezielt Lücken zu schließen. „Wer nicht weiß, was eine Potenz ist, braucht gar nicht erst mit Kurvendiskussionen anzufangen”, sagt Jung.
Mit diesem Konzept hat er Tausende Schülerinnen und Schüler durchs Abitur gebracht. Unter seinen Videos stehen Kommentare wie „Wenn einer meine Schulzeit gecarried hat, dann sind Sie es!“, „Morgen Mathe-Abi. Danke Daniel, du bist der Beste“ oder „Ich hab‘ in zwei Minuten mehr verstanden als in zehn Jahren Schule“. Dazu viele Herz- und Danke-Emojis.
Jung ist einer der reichweitenstärksten Bildungsinfluencer bundesweit. 937.000 Menschen haben seinen Kanal „Mathe by Daniel Jung” abonniert. Sein beliebtestes Video hat 2,2 Millionen Aufrufe. Er erklärt darin Parabeln und quadratische Funktionen – ein Mittel- und Oberstufenthema.
Inspiriert hat ihn Gilbert Strang. Der US-amerikanische Mathematik-Professor lud seine Vorlesungen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) schon 2005 bei YouTube hoch. Wie bei Strang sind auch Jungs Videos schnörkellos. Zu sehen ist sein Oberkörper vor dem Whiteboard, enges Poloshirt, Stift in der rechten Hand. Als Umriss hat er diese Haltung auch auf sein Polohemd sticken lassen. Daniel Jung trägt Daniel Jung.
In seinen ersten Videos trägt er noch ein zerknittertes Hemd, da sind die Videosequenzen auch länger. Aber nie sagt er am Anfang das bei Influencern so beliebte „Hallo meine Lieben“, nicht einmal ein knappes „Moin“. Persönliche Bindung zum Publikum? Fehlanzeige. Aber seine Followerinnen und Follower suchen eben auch schnelle Antworten – keine Freundschaft.
Viel gedacht habe er sich nicht dabei, sagt Jung. „Es soll ja darum gehen, dass man was lernt – und nicht, dass mich alle mögen.“ Manchmal bekommt er Beschwerden wegen unleserlicher Schrift oder schiefer Linien. „Ich finde die aber völlig okay“, sagt Jung und tippt auf eine der Linien auf dem Whiteboard. „Man kann es nicht allen recht machen.“
Digitale Lehrkräfte wie Daniel Jung gibt es viele. Manche sind selbst Lehrer, wie Kai Schmidt (@lehrerschmidt), forschen an der Universität, wie Johann Beurich (@dorfuchs), oder zeigen ihr Gesicht gar nicht, wie Leon Baar (@100SekundenPhysik). Eine Studie des Rats für Kulturelle Bildung zeigt, wie groß das Interesse an solchen Inhalten schon 2019 war: Demnach nutzt fast jeder Zweite zwischen 12 und 19 Jahren YouTube auch als Hausaufgaben- oder Lernhilfe. „Bildungsmedium der Jugend“ wurde die Plattform damals genannt. Tiktok startete ein Jahr später die Kampagne #LernenMitTikTok.
Dabei ist das Konzept eigentlich veraltet: klassischer Frontalunterricht, lehrerzentriert, wenig Interaktion. Warum sind die Videos trotzdem so beliebt? Eine Antwort lieferte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an „Lehrerschmidt“. „Während des Schulunterrichts war noch alles klar. Aber kaum sind sie [die Schülerinnen und Schüler, Anm. d. Red.] zu Hause vor ihren Aufgaben, scheint das Gelernte wie weggeblasen“, sagt Steinmeier. „Dagegen wollten sie etwas tun.“
Die Erklärvideos sind eine kostenlose Ergänzung zur klassischen Nachhilfe. Fragen stellt man in den Kommentaren oder in der Suchmaske – bestenfalls gibt es schon eine passende Video-Antwort. Das ist auch einer der großen Vorteile gegenüber Schulunterricht: Videos lassen sich einfach an persönliche Vorlieben anpassen. Sie sind immer verfügbar, können beliebig oft angehalten und abgespielt werden. Wer langsamer lernt, schaut häufiger. Wer abends noch Fußballtraining hat, schaut nachmittags.
Dazu kommt der Schutz der Anonymität. „In der Schule haben viele Jugendliche Angst, durch eine vermeintlich dumme Frage von den Klassenkameraden oder der Lehrkraft stigmatisiert zu werden“, erzählt Jung. „Zuhause sieht niemand, wie oft man sich das Video anschauen muss, um es zu verstehen.“
Mehr als 3700 Videos hat Jung produziert. Was ihn antreibt? „Ich habe einfach immer schon gerne erklärt“, sagt er. „Und ich wollte die Erklärungen für möglichst viele Menschen zugänglich machen.“ Deswegen gründete er während seines Studiums (erst Sportmanagement in Köln, dann Sport und Mathematik auf Lehramt in Wuppertal) mit einem Kumpel eine Tennis- und eine Nachhilfeschule. Die liefen irgendwann so gut, dass er die Uni verließ – ohne Abschluss.
Jung will aus Nachhilfe ein Business machen. Wenn er redet, fallen Begriffe, die man selten im Bildungsbereich hört: „Investment“, „Asset“, „Transformation“ und „skalieren“. Sich selbst sieht er mehr als Unternehmer denn als Influencer. 2012 baut er mit einem Freund ein E-Learning-Portal - also eine Website, auf der man sich kostenlos einloggen kann, mit Aufgaben, Erklärvideos und Chatfunktion. Damals war er einer der Ersten. Geklappt hat es trotzdem nicht. Jung erklärt es sich damit, dass er damals einfach zu früh dran gewesen sei. Er sagt das häufiger, auch wenn er über sein Buch „Let’s Rock Education” spricht. Es erschien wenige Tage, bevor die Corona-Pandemie alles lahmlegte, die Inhalte verpufften in der Aufregung.
„Jetzt werde ich wieder nach all dem gefragt, was ich damals schon niedergeschrieben hatte“, sagt Jung und klingt etwas frustriert. Besser spät als nie, könnte man meinen, aber Jung reicht das nicht. Er will nicht nur schnell zum Punkt kommen, er strebt längst weiter.
Es ist ein seltsamer Spagat: Auf der einen Seite das Bildungssystem mit seinem Beamtentum, das sich oft den Vorwurf gefallen lassen muss, zu träge zu sein. Auf der anderen Seite der freie Arbeitsmarkt mit seiner schnelllebigen Startup-Kultur – und irgendwo dazwischen bewegt sich Daniel Jung.
Jung spannte in den vergangenen Jahren viele Fäden - manche davon rissen. Er zerstritt sich mit seinem Kompagnon, investierte in Bildung-Startups wie „StudyHelp“ oder „Tomorrow’s Education“ – eine digitale Universität, die Vorlesungen im Metaverse zu Nachhaltigkeit, Unternehmertum und Technologie anbietet. Zeitweise beschäftigte er bis zu zehn Mitarbeitende in seinem Kölner Studio. Immer wieder arbeitet er auch mit Universitäten zusammen. Mit der Stuttgarter Hochschule der Medien und anderen etwa entwickelt er 2022 den digitialen Lernassistenten „AIEDN“. Er gibt auf Fragen schriftlich Antwort und springt an die passenden Stellen der Lernvideos. Gezielt Wissenslücken mit KI auffüllen – so die Idee. Wie ChatGPT, nur ohne Fake-Inhalte.
An zwei Gymnasien und zwei Realschulen in Baden-Württemberg testeten die Forschenden das Angebot. Das Ergebnis: Schüler und Schülerinnen, die mit AIEDN lernten, konnten das Gelernte besser anwenden als die Kontrollgruppe, der lediglich eine Stichwortsuche zur Verfügung stand. Der Unterschied war zwar nicht groß, aber signifikant.
Wie und wo macht KI die Schule besser? Was braucht es, damit Kinder besser lernen, Lehrkräfte besser unterrichten können? Das sind Fragen, die Jung umtreiben - nach dem AIEDN-Projekt mehr als zuvor. Er plädiert dafür, Schulen mit KI neu zu denken. „An vielen Stellen kann KI auch Lehrkräften Arbeit abnehmen”, sagt Jung. „Etwa bei Elternbriefen oder beim Entwerfen von Aufgaben.“
Die Vorschläge der KI müssten von der Lehrkraft zwar immer noch überprüft werden, aber immerhin habe man schon mal einen Vorschlag. Doch Jung warnt auch vor Leichtsinn: „Es ist wichtig, dass sich Lehrkräfte weiterbilden und auch die Risiken kennen“, sagt er. „KI ist wie Internet auf Speed. Da muss man genau wissen, wo Gefahr drohen kann.“
Um Risiken und Potenziale von KI im Bildungsbereich einzuordnen, hat das Bundesbildungsministerium ein Expertengremium zusammengestellt. In dem aktuellen Papier heißt es: KI sei weder eine „Wunder-Bildungswaffe”, noch mache sie bisheriges Wissen überflüssig. Entscheidend sei der „didaktisch sinnvolle Einsatz“ durch gut ausgebildete Lehrkräfte unter „Berücksichtigung bereits vorhandener Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern”.
Nicht nur für Jung steckt in Erklärvideos noch ein großes Potenzial. Eine Studie von 2024 zeigt den Effekt von naturwissenschaftlichen Erklärvideos im Unterricht auf die Lernwirksamkeit. Das Ergebnis: Wer mit Videos lernt, lernt signifikant besser.
Ist YouTube also das bessere Klassenzimmer? „Nein“, sagt Jung. „Es braucht den physischen Ort.“ Lernplattformen seien eine wichtige Ergänzung, aber könnten die reale Erfahrung, die echte Begegnung von Lehrkraft und Jugendlichen, nicht ersetzen.
Dafür spricht auch der „erheblich negative Trend“ bei Kindern der vierten Klasse nach dem pandemiebedingten Homeschooling, den zum Beispiel der IQB-Bildungstrend 2021 belegt. Auch John Hattie, einer der derzeit bekanntesten Bildungsforscher, bekräftigt in seiner neuesten Studie „Visible Learning 2.0“ den Wert der Lehrkraft – gerade im digitalen Zeitalter.
Und so betont letztlich auch der Daniel Jung die Grenzen seines Modells: Plattformen wie YouTube hätten den Nachteil, dass es immer Ablenkung gebe. „Hier das Cookiefenster, da die Werbung“, sagt Jung - und kommt zu einem ganz klassischen Schluss: „Wir brauchen eine ablenkungsfreie Lernumgebung.“