Jede Zelle im Körper hat als Teil eines Gewebeverbandes normalerweise ihren festen Platz. Ausgenommen sind nur wenige Zellarten, wie etwa Blut- oder Immunzellen. „Doch auch Krebszellen überschreiten die festgelegten Grenzen, wachsen in das umgebende Gewebe ein und vermehren sich. Und sie können sich aus dem Zellverband lösen und über die Blut- oder Lymphbahnen in andere Bereiche des Körpers verteilen, sich dort an neue Zellen anheften und Metastasen in anderen Organen bilden oder vermehren“, erläutert der Forscher.
Welche Veränderungen die Krebszellen durchlaufen, um zu metastasieren, sei bisher noch nicht komplett verstanden. Eine wichtige Rolle spielen aber offenbar bestimmte Proteine, die Signale innerhalb der Zellen verarbeiten und unter anderem das Wachstum und die Zellwanderung regulieren.
„Sind diese sogenannten Rho-Proteine zu zahlreich oder aufgrund genetischer Veränderungen zu aktiv, können sie gravierende Schäden beim Zellwachstum verursachen und beispielsweise Krebs auslösen.“ In seiner Arbeitsgruppe forscht Tsiavaliaris an sogenannten Myosinmotoren.
Sie treiben als eine Art Minimaschinen viele lebenswichtige Prozesse in menschlichen Zellen an, darunter Kraft und Bewegung. „Mein Forschungsteam hat einen synthetischen Wirkstoff namens Adhibin entdeckt, der die Motorfunktion der Myosine aufhebt“, sagt der Biochemiker. Dadurch werden Mechanismen der Metastasenbildung unterdrückt. Die Folge: „Tumorzellen können nicht mehr ungestört wandern und sich auch nicht an anderer Stelle andocken.“Anders als viele Krebsmedikamente, die auch gesunde Körperzellen abtöten, greift der Wirkstoff nur in die Metastasenbildung ein, legt die Krebszelle also sozusagen lahm. „Das ist wichtig, es wirkt nicht toxisch, und die schädliche Wirkung auf gesunde Körperzellen sinkt“, erklärt Professor Tsiavaliaris, der sich seit fünf Jahren intensiv dieser Entwicklung widmet.
In Tumorzellen und in Miniorganmodellen hat der Biochemiker gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Despoina Kyriazi den Wirkstoff bereits erfolgreich getestet. „Wir konnten die Zellmigration quasi einfrieren, wenn wir Adhibin zugegeben haben.“ Wurde der Wirkstoff wieder entfernt, konnten die Tumorzellen wieder wandern und sich an andereZellen anheften.Welche Krebsart als Grundlage vorliegt, spielt dabei zunächst keine Rolle, „es wird ja der komplette Tumorzellenverband zerstört“.
Das Team setzt nun auf weitere präklinische Studien. „Das erfordert natürlich neben Zeit auch Drittmittel. Geld beschleunigt die Entwicklung“, betont der Professor. Die Hürde für die Anträge zu Daten aus Tierexperimenten sei besonders in Deutschland sehr hoch, daher rechnet der Experte mit Ergebnissen erst in einigen Jahren. „Aber kann die Wirksamkeit belegt werden und zeigen sich keine unerwarteten Nebenwirkungen, könnten die Studien eine neue Grundlage für die Entwicklung antimetastatischer Medikamente sein und die bestehenden Krebstherapien ergänzen.“ Diese Erkenntnis sei auch für die MHH-Wissenschaftler bahnbrechend. „Es ist schon Wahnsinn, dass dieser Wirkstoff funktioniert.“
Jährlich erkranken rund eine halbe Million Menschen neu an Krebs, bei Männern zählen Prostata-, Lungen- und Darmkrebs, bei Frauen Brust-, Lungen- und Darmkrebs zu den häufigsten Tumorarten. Die Neuerkrankungsrate steigt seit Jahren, rund 50 Prozent der Betroffenen leben noch fünf Jahre nach der Diagnose. 90 Prozent aller Krebstodesfälle sind durch Metastasen verursacht.
Je nach Entstehungsort teilen Mediziner Metastasen in drei Gruppen ein: Lokale Metastasen entstehen in direkter Nachbarschaft des ursprünglichen Tumors. Lymphknotenmetastasen sind Krebszellen, die vom Tumor in die umliegenden Lymphknoten gelangt sind. Je mehr Lymphknoten betroffen sind, desto höher ist die Gefahr, dass Krebszellen bereits auf dem Weg in weitere Organe sind. Und schließlich Fernmetastasen, bei denen sich die Krebszellen in anderen, weiter entfernt liegenden Organen angesiedelt haben – meist in der Leber, der Lunge, dem Gehirn und den Knochen.